An den Strukturen der Verhältnisse rütteln

In den folgenden Abschnitten werden einige widerständige Aktionen und Formen des Protestes aufgelistet. Die Auswahl ist weder umfassend noch repräsentativ. Es ist eine laufende Arbeit, auf der Suche nach dem, was es so gibt, um inspiriert zu werden und um selbst mehr Klarheit zu bekommen. Wen und was will mensch erreichen? Was sind Potentiale und Konsequenzen von verschiedenen Aktionen? Was ist im Rahmen der eigenen Ideologie oder den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich? Welche andere Kontexte gibt es – wie ändert sich dabei die Aktion? Schlussendlich soll es uns bestärken, uns als Teil einer Welt zu wissen, in der nicht alle gleich denken und handeln – und viele den Mut haben, etwas gegen Regime und bestehende Ordnungen in die Welt zu setzen.
Die Beispiele betreffen nicht alle direkt das Migrationsregime, sondern auch den Widerstand gegen die Strukturen unserer Gesellschaft, die ein solches Regime ermöglichen. Ich bewerte die Beispiele unterschiedlich, habe aber, um der Vielfalt willen, unterschiedlich motivierte Aktionen und Menschen mit verschiedenen Handlungsspielräumen, Mitteln und Zielen aufgelistet. Die Beschreibungen sind nicht meine eigenen Interpretationen, sondern sinngemäss aus Selbstbeschreibungen sowie anderen Artikeln und Berichten übernommen. Es wird nur wenig Information geliefert, dafür gibt es zusätzliche Links. Alle können selbständig recherchieren, was sie interessiert.

 

Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp
Am 20. Oktober 2017 startete eine Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp in Lesbos aufgrund der untragbaren Bedingungen. Jede Woche werden 7 – 20 Personen in die Türkei ausgeschafft. Es gibt zu wenig Anwälte für die Rechtsvertretung der geflüchteten Menschen. Die Menschen stecken auf der Insel fest, die Zelte des Camps sind nicht wasserdicht und die medizinische Versorgung ungenügend. Also haben sich einige für einen Hungerstreik zusammengeschlossen und den Sappho Square in Lesbos besetzt. Der Protest dauerte 33 Tage und wurde regelmässig von Polizeigewalt gestört.  Einige Protestierende wurden ausgeschafft. Und so gehts weiter.
Briser les frontière
Briser les frontières ist der Name für ein grenzübergreifendes Netzwerk von Menschen in der Gegend der Grenze von Italien und Frankreich. Ihr Ziel ist es, die Grenzen aufzubrechen und einen Kampf gegen profitorientierte, naturverwüstende und Menschenleben ignorierende Interessen zu führen. Es wurden bereits illegalisierte Menschen tot oder mit erfrorenen Gliedmassen in der Gegend gefunden. Briser les frontières veranstalten Protestmärsche entlang der Grenze und leisten Nothilfe.
Hungerstreik auf dem Syntagma Square, Athen
Vom 1. – 14. November 2017 gab es einen Hungerstreik auf dem Syntagma Square in Athen. Sieben Frauen und Sieben Männer fasteten, um auf die Verzögerung in der Familienzusammenführung aufmerksam zu machen. Sie sitzen länger als 6 Monate auseinandergerissen fest, wogegen sie mit dem Hungerstreik ein Zeichen setzen wollten. Es wurde eine Pressekonferenz organisiert. Einige der Protestierenden wurden in das Spital eingeliefert. Nach 15 Tagen endete der Streik wie geplant. Es ist nicht bekannt, ob der Streik einen Effekt auf das Anliegen der Hungernden hatte.
http://hungerstrike.commonstruggle.eu/
Festivals gegen Militarisierung in der Türkei
Militourism festivals organisiert Festivals gegen Militarisierung in der Türkei seit 2004. Dabei werden Tourismus, Spektakel und Anti-Politik ironisch nebeneinandergestellt. Zudem werden Orte und deren Geschichtsschreibung bei Touren, Protesten und Ausstellungen besucht.
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army ist eine Gruppe, die sich an Demonstrationen mit armeeartigen Clownanzügen verkleidet, um sich über Autoritäten lustig zu machen. Ebenso gibt es die Praxis, sich in Pink und Silber als Cheerleader zu verkleiden. Beide Taktiken versuchen Verwirrung zu stiften und feste Kategorien so wie kulturelle Codes über den Haufen zu werfen (weiblich-männlich, gewaltlos-gewalttätig, usw.).
Kommunikationsguerilla und culture jamming
Kommunikationsguerilla und culture jamming sind beides Strategien, um mittels Sprache Verwirrung zu stiften und Festgefahrenes zu hinterfragen/zerstören. Adbusting ist eine Form der Kommunikationsguerilla. Dabei werden Logos oder Werbungen leicht verändert. Ein einfaches Beispiel ist das Übermalen des “S“ von Shell. Das Logo ist nach wie vor erkennbar, doch es heisst nun hell (Hölle) und nicht mehr Shell, was auf die Geschäftspraxis des Grosskonzerns hinweist.
https://www.metronaut.de/2012/05/medienhacking-im-wandel-kommunikationsguerilla-politischer-aktivismus/
Immigrant Movement International
Tania Bruguera Fernández ist eine kubanische Artivistin. Sie hat viele Aktionen auf ihrer Webseite dokumentiert. Als Teil der Gruppe „Immigrant Movement International“ hat sie beispielsweise Unterschriften gesammelt für einen offenen Brief an Papst Franziskus, um ihn aufzufordern, benachteiligten Menschen die vatikanische Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Afghan Refugees Movement
Afghan Refugees Movement ist eine unabhängige Gruppe in Frankfurt, die sich gegen Ausschaffungen nach Afghanistan wehrt. Sie organisieren regelmässig Demonstrationen. Die letzte fand am 6.12.17 direkt am Flughafen Frankfurt statt, wo 500 Menschen gegen die Ausschaffung von 27 Menschen nach Afghanistan protestierten. Die Gruppe organisiert auch andere Veranstaltungen, wie Vorträge oder Gruppentreffen.
Center for Tactical Magic
Das Center for Tactical Magic engagiert sich in der Bildung und Störung von Macht durch die Verwendung von Geschichten, Symbolen und Bildern. Ihr Ziel ist die Emanzipierung von Menschen, um sich ihre eigene Lebensrealität zu schaffen. Auf ihrer Webseite gibt es verschiedene Anleitungen, wie der Alltag gestört werden kann.
Berlin Umsonst
Die Gruppe Berlin Umsonst hat falsche Tickets des Berliner öffentlichen Verkehrs gedruckt und verteilt – öffentlicher Verkehr sollte für alle umsonst sein. Ausserdem wollten sie auf die rassistisch-kriminellen Assoziationen des Begriffs “Schwarzfahren” hinweisen und haben ihre Aktion Pinker Punkt genannt. Früher gab es auch den roten Punkt:
http://www.linkfang.de/wiki/Roter-Punkt-Aktion
Kein Mensch ist illegal
Die Gruppe Kein Mensch ist illegal verband sich gegen die Komplizenschaft der Fluggesellschaft Lufthansa mit dem Staat bei der Ausschaffung von Menschen. Die Kampagne startete mit einer Image-zerstörenden Aktion, bei der sie mit einer neuen Budgetklasse namens „Deportation class“ Werbung für die Lufthansa machte. Das wären Sitze neben Menschen in Handschellen und Klebeband über dem Mund – die Preise sind dafür günstiger. Sie verwendeten Flyer, hackten die Webseite der Lufthansa, tauchten an der GV und bei Pressekonferenzen der Lufthansa auf und performten Ausschaffungen am Flughafen. Sie erreichten zwar nicht die Verhinderung von Ausschaffungen an sich, doch die Lufthansa führt keine Ausschaffungen mehr durch.
The Space Hijackers (Die Raum Entführer)
The Space Hijackers (Die Raum Entführer) irritierten bis 2014 den öffentlichen Raum in London. Sie kämpfen gegen die Beeinträchtigung des kollektiv geteilten Raumes durch Organisationen, Stadtplaner*innen und andere Schelme. Beispielsweise haben sie es strategisch ausgeklügelt geschafft, in eine Waffenhandelsmesse mit einem Panzer einzubrechen und ihn dort zu versteigern. Auf ihrer Webseite haben sie eine umfangreiche Dokumentation all ihrer Aktionen aufgeführt: Zum Beispiel ein Onlinetest: https://spacehijackers.org/amIananarchist/index.html
Biotic Baking Brigades
Die Biotic Baking Brigades ist ein loses Kollektiv, das berühmten Menschen, die „Verbrechen gegen Menschen und Land verüben“, Kuchen ins Gesicht wirft. Es schreibt auf seiner Webseite: “Dieses Aufbäumen hat seine Wurzeln nicht im Glauben, dass unser Planet stirbt, sondern er wird getötet und die, die das Töten verursachen, haben Namen und Gesichter.“
https://web.archive.org/web/20030622231356/ http://www.bioticbakingbrigade.org:80/index.html
Festival über unkonventionelle Kunst, bei dem sie auftraten:
http://theinfluencers.org/en/biotic-baking-brigade 
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS)
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) in Berlin ist ein Zusammenschluss von Aktionskünstlern, die im Namen des „aggressiven Humanismus’“ diverse Aktionen in Deutschland und der Schweiz inszenieren. Eine Aktion nannte sich „Europäischer Mauerfall“. Dabei wurden bei einer Gedenkstätte für die Toten an der Berliner Mauer die Kreuze abmontiert und für den 25. jährigen Gedenktag des Mauerfalls zu ihren Brüdern und Schwestern an die EU-Aussengrenze gebracht. Provokation und Aufruhr ist das Mittel ihrer Aktionen. Die empörten und angriffigen Zeitungsartikel, die über die verschiedenen Aktionen verfasst wurden, schmücken wie Trophäen die Webseite des ZPS.  Interview mit einem Aktivisten:
https://www.vice.com/de/article/znk3vw/die-neuen-mauertoten-europas-772
Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag
Im September 2000 fanden Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag statt. Der Schwarze Block von ungefähr 5000 Menschen hatte riesige blaue Bälle dabei. Darauf stand in oranger Schrift „Balls to the IMF“. Der Plan war die Belagerung des Treffens, doch, wie erwartet, verunmöglichte die zahlreiche, schwer bewaffnete Polizei das Vorhaben. Das Gefecht ging los, die Wasserwerfer wurden eingesetzt – das ist der Moment der Bälle. Sie verkörperten die Vorhersehbarkeit der Repression, sind eine scherzhafte Vorwegnahme, was passieren würde, die Vorbereitung auf die Front und der Versuch eines spielerischen Umgangs damit. (Interpretation von Christian Scholl) Folgende zwei Filme zeigen die Verwendung der blauen Bälle. https://www.youtube.com/watch?v=iXn6Kv6_pqw, https://www.youtube.com/watch?v=GIVvBF_7JDo
Gemälde als Barrikaden
1849 gab es in Dresden einen sozialistischen Aufstand, der von preussischen Truppen bedroht wurde. Mikhail Bakunin schlug vor, Gemälde aus den nationalen Museum zu benutzen um sie vor die Barrikaden zu hängen. So sollten die bürgerlichen Gefühle provoziert werden und ein Angriff verhindert werden. Der Vorschlag setzte sich nicht durch, nicht alle wollten damals die Kunst instrumentalisieren.
Aus dem Sammelband Cultural Activism – herausgegeben von Begüm Özden Fırat and Aylin Kuryel.
Tute Bianche (Die Weissen Overalls)
Tute Bianche (Die Weissen Overalls) entstanden aus einer Repressionswelle in Italien. Die Aktivisten haben mit Kissen ausgefüllte weisse Overalls getragen, um sich vor Polizeigewalt zu schützen und an Orte zu gelangen, die gewaltsam abgeschottet werden. Sie wollten soziale Konflikte sichtbar machen – aufzeigen, wer Gewalt ausübt und damit trotzdem die Mächtigen konfrontieren. Das Bild eines ausgepolsterten, sich schützenden Aktivisten gegenüber einem massiv bewaffneten Polizisten spricht für sich selbst. Sie haben bei einem Protest in Barcelona Plexiglasschilder benutzt, auf die sie Bilder von Kindern klebten, wie sie auf Spendeaufrufen abgebildet sind.
https://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/tute/
https://www.azzellini.net/zapatisten/die-tute-bianche-weisse-overalls
Zwarte Piet is Racisme
Das Projekt Zwarte Piet is Racisme wurde 2013 in Amsterdam ins Leben gerufen. Dabei wird die Tradition vom Schwarzen Peter, dem Begleiter des Sinterklas, als rassistisch angeprangert. Das Projekt hat eine breite mediale Beachtung gefunden und wurde emotional-kontrovers diskutiert. Sie haben das Logo „Zwaarte Piet is Racisme“ auf T-Shirts gedruckt, Diskussionen und Proteste veranstaltet, sowie eine gefälschte UN Meldung herausgegeben, in der es hiess, dass eine Rassimusanklage gegen die niederländische Regierung abgeklärt wird.
Proteste Lampedusa
Seit über 10 Jahren finden auf Lampedusa immer wieder Proteste von vielen geflüchteten Menschen statt. Im Januar 2009 haben sie dabei das „eigene“ Flüchtlingslager angezündet. Sie fordern die Möglichkeit, sicher zu reisen und an den Bestimmungsort gehen zu können, den jede*r selbst wählt. Die Gruppe Askavusa Lampedusa informiert darüber und stellt konkrete Forderungen in Form von Appellen an die Staatsorgane. Ausserdem führt sie einen Blog und begleitet einzelne Menschen dabei, ihre Rechte einzufordern. Am 2.1.2018 haben sie in einem Haus in der Nähe des Hotspots einen Mann hängend gefunden – die letzte Form des Protest. Sie sagen: „Das ist das extremste Ereignis einer Serie von Selbstschädigung, die die zum Bleiben Gezwungen sich selbst angetan haben.“
https://medium.com/@AreYouSyrious/ays-daily-digest-05-01-2018-the-trickle-down-effect-d957f1623b03
NOBESE action group
Die NOBESE action group wurde 2005 geformt, um gegen die Überwachung in Istanbul in Aktion zu treten. Es wurden Flugblätter bei der Eröffnung des neuen Überwachungssystems verteilt und Strassenaktionen durchgeführt, in denen Überwachung und Kontrolle in Performances auf der Strasse gezeigt wurde. Die Kameras wurden fotografiert und mit Ferngläsern betrachtet und Stickers “evil eye” verteilt. Die Aktionen wurden mit Musik begleitet, um möglichst viel Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum zu erzielen.
Theater der Unterdrückten, Unsichtbares Theater
Beim Theater der Unterdrückten werden Situationen, in denen Menschen nicht handlungsfähig sind, nachgespielt und gemeinsam neugestaltet. Daraus ist später das Unsichtbare Theater gewachsen. Dabei werden im öffentlichen Raum Situationen inszeniert, die auf politische Themen hinweisen und den unwissenden Beteiligten eine Erfahrung ermöglichen. Das unsichtbare Theater entwickelte sich, weil offener Protest aufgrund der Repression nicht möglich war.
Weiteres zum Nachlesen
-Weitere Bücher zu kreativen Interventionen:

https://www.goodreads.com/book/show/755962.The_Interventionists
-Handbuch der Kommunikationsguerilla, das verschiedene Formen davon beschreibt und diskutiert:
http://kommunikationsguerilla.twoday.net/topis/a.f.r.i.k.a.-texte/
Die Siuationisten und Dadaisten, die es leider nicht mehr in die Liste geschafft haben.
http://library.nothingness.org/articles/SI/en/
-Anarchistische Rezeptbücher:
https://de.scribd.com/doc/11251441/The-Anarchist-Cookbook-by-William-Powell-1971
http://bnrg.cs.berkeley.edu/~randy/Courses/CS39K.S13/anarchistcookbook2000.pdf
https://crimethinc.com/books/recipes-for-disaster
-Ein Podcast zu der „Hedonistischen Internationalen“:
https://cre.fm/cre185-hedonistische-internationale
-Werk, das weitere direkte Aktionen erklärt und diskutiert:
Direkte Aktion von David Graeber

Bei der Erarbeitung der Liste hat die Autorin darüber nachgedacht, dass es gut ist, ein Bewusstsein zu haben, was mensch will: provozieren – auf was hinweisen – Gefühle ausleben – sich organisieren und Banden bilden – Verhältnisse zu dekonstruieren – nach Alternativen zu suchen – Utopien leben – viel mediale Aufmerksamkeit für ein Thema – sich einem Thema einfach irgendwie zuwenden und einfach irgendwas damit machen – Solidarität zeigen – eine Debatte entfachen – ein konkretes Ziel verfolgen – parallele Organisationen und alternative Wege im bestehenden System schaffen – die Lebensbedingungen im gegebenen Strukturen / Situationen verbessern. Weiter stellt sich die Schwierigkeit der Übereinstimmung von Zweck und Aktion, die Ungerechtigkeit in den unterschiedlichen Handlungsspielräumen, der Konflikt zwischen Absicht und Ergebnis, das Verhältnis und die Wahrnehmung im Einsatz von verschiedenen Mitteln in gegebenen Kontexten, die Instrumentalisierung der Situation gegen die mensch sich wehrt – oder ob damit das eigentliche Ziel oder die Ideologie sabotiert wird – und weshalb das dann so ist. Sie hofft, dass sich Leser*innen von den Beispielen, die passen, für eigene Aktionen inspirieren lassen, oder – noch besser – bei dem, was nur so halb gefällt, weiterdenken, wie es verändert werden müsste, damit es für sie Sinn ergibt.