Fotos aus dem Bässlergut

Die Fotografien entstanden bei einer offiziellen Führung durch das Gefängnis Bässlergut. Ein Rundgang mit Blick in die Vorzelle, den Produktionsraum, den Hof, den Gerichtssaal, die Isolationszelle und den hauseigenen Kiosk, bis wir wieder am grossen Stahltor stehen, das die beiden Welten voneinander trennt. Weder Gefangene noch Mitarbeitende durften während des Rundgangs fotografiert werden. Es bleiben leere Räume und die Spuren der Menschen, die in Haft leben.

An den Strukturen der Verhältnisse rütteln

In den folgenden Abschnitten werden einige widerständige Aktionen und Formen des Protestes aufgelistet. Die Auswahl ist weder umfassend noch repräsentativ. Es ist eine laufende Arbeit, auf der Suche nach dem, was es so gibt, um inspiriert zu werden und um selbst mehr Klarheit zu bekommen. Wen und was will mensch erreichen? Was sind Potentiale und Konsequenzen von verschiedenen Aktionen? Was ist im Rahmen der eigenen Ideologie oder den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich? Welche andere Kontexte gibt es – wie ändert sich dabei die Aktion? Schlussendlich soll es uns bestärken, uns als Teil einer Welt zu wissen, in der nicht alle gleich denken und handeln – und viele den Mut haben, etwas gegen Regime und bestehende Ordnungen in die Welt zu setzen.
Die Beispiele betreffen nicht alle direkt das Migrationsregime, sondern auch den Widerstand gegen die Strukturen unserer Gesellschaft, die ein solches Regime ermöglichen. Ich bewerte die Beispiele unterschiedlich, habe aber, um der Vielfalt willen, unterschiedlich motivierte Aktionen und Menschen mit verschiedenen Handlungsspielräumen, Mitteln und Zielen aufgelistet. Die Beschreibungen sind nicht meine eigenen Interpretationen, sondern sinngemäss aus Selbstbeschreibungen sowie anderen Artikeln und Berichten übernommen. Es wird nur wenig Information geliefert, dafür gibt es zusätzliche Links. Alle können selbständig recherchieren, was sie interessiert.

 

Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp
Am 20. Oktober 2017 startete eine Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp in Lesbos aufgrund der untragbaren Bedingungen. Jede Woche werden 7 – 20 Personen in die Türkei ausgeschafft. Es gibt zu wenig Anwälte für die Rechtsvertretung der geflüchteten Menschen. Die Menschen stecken auf der Insel fest, die Zelte des Camps sind nicht wasserdicht und die medizinische Versorgung ungenügend. Also haben sich einige für einen Hungerstreik zusammengeschlossen und den Sappho Square in Lesbos besetzt. Der Protest dauerte 33 Tage und wurde regelmässig von Polizeigewalt gestört.  Einige Protestierende wurden ausgeschafft. Und so gehts weiter.
Briser les frontière
Briser les frontières ist der Name für ein grenzübergreifendes Netzwerk von Menschen in der Gegend der Grenze von Italien und Frankreich. Ihr Ziel ist es, die Grenzen aufzubrechen und einen Kampf gegen profitorientierte, naturverwüstende und Menschenleben ignorierende Interessen zu führen. Es wurden bereits illegalisierte Menschen tot oder mit erfrorenen Gliedmassen in der Gegend gefunden. Briser les frontières veranstalten Protestmärsche entlang der Grenze und leisten Nothilfe.
Hungerstreik auf dem Syntagma Square, Athen
Vom 1. – 14. November 2017 gab es einen Hungerstreik auf dem Syntagma Square in Athen. Sieben Frauen und Sieben Männer fasteten, um auf die Verzögerung in der Familienzusammenführung aufmerksam zu machen. Sie sitzen länger als 6 Monate auseinandergerissen fest, wogegen sie mit dem Hungerstreik ein Zeichen setzen wollten. Es wurde eine Pressekonferenz organisiert. Einige der Protestierenden wurden in das Spital eingeliefert. Nach 15 Tagen endete der Streik wie geplant. Es ist nicht bekannt, ob der Streik einen Effekt auf das Anliegen der Hungernden hatte.
http://hungerstrike.commonstruggle.eu/
Festivals gegen Militarisierung in der Türkei
Militourism festivals organisiert Festivals gegen Militarisierung in der Türkei seit 2004. Dabei werden Tourismus, Spektakel und Anti-Politik ironisch nebeneinandergestellt. Zudem werden Orte und deren Geschichtsschreibung bei Touren, Protesten und Ausstellungen besucht.
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army ist eine Gruppe, die sich an Demonstrationen mit armeeartigen Clownanzügen verkleidet, um sich über Autoritäten lustig zu machen. Ebenso gibt es die Praxis, sich in Pink und Silber als Cheerleader zu verkleiden. Beide Taktiken versuchen Verwirrung zu stiften und feste Kategorien so wie kulturelle Codes über den Haufen zu werfen (weiblich-männlich, gewaltlos-gewalttätig, usw.).
Kommunikationsguerilla und culture jamming
Kommunikationsguerilla und culture jamming sind beides Strategien, um mittels Sprache Verwirrung zu stiften und Festgefahrenes zu hinterfragen/zerstören. Adbusting ist eine Form der Kommunikationsguerilla. Dabei werden Logos oder Werbungen leicht verändert. Ein einfaches Beispiel ist das Übermalen des “S“ von Shell. Das Logo ist nach wie vor erkennbar, doch es heisst nun hell (Hölle) und nicht mehr Shell, was auf die Geschäftspraxis des Grosskonzerns hinweist.
https://www.metronaut.de/2012/05/medienhacking-im-wandel-kommunikationsguerilla-politischer-aktivismus/
Immigrant Movement International
Tania Bruguera Fernández ist eine kubanische Artivistin. Sie hat viele Aktionen auf ihrer Webseite dokumentiert. Als Teil der Gruppe „Immigrant Movement International“ hat sie beispielsweise Unterschriften gesammelt für einen offenen Brief an Papst Franziskus, um ihn aufzufordern, benachteiligten Menschen die vatikanische Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Afghan Refugees Movement
Afghan Refugees Movement ist eine unabhängige Gruppe in Frankfurt, die sich gegen Ausschaffungen nach Afghanistan wehrt. Sie organisieren regelmässig Demonstrationen. Die letzte fand am 6.12.17 direkt am Flughafen Frankfurt statt, wo 500 Menschen gegen die Ausschaffung von 27 Menschen nach Afghanistan protestierten. Die Gruppe organisiert auch andere Veranstaltungen, wie Vorträge oder Gruppentreffen.
Center for Tactical Magic
Das Center for Tactical Magic engagiert sich in der Bildung und Störung von Macht durch die Verwendung von Geschichten, Symbolen und Bildern. Ihr Ziel ist die Emanzipierung von Menschen, um sich ihre eigene Lebensrealität zu schaffen. Auf ihrer Webseite gibt es verschiedene Anleitungen, wie der Alltag gestört werden kann.
Berlin Umsonst
Die Gruppe Berlin Umsonst hat falsche Tickets des Berliner öffentlichen Verkehrs gedruckt und verteilt – öffentlicher Verkehr sollte für alle umsonst sein. Ausserdem wollten sie auf die rassistisch-kriminellen Assoziationen des Begriffs “Schwarzfahren” hinweisen und haben ihre Aktion Pinker Punkt genannt. Früher gab es auch den roten Punkt:
http://www.linkfang.de/wiki/Roter-Punkt-Aktion
Kein Mensch ist illegal
Die Gruppe Kein Mensch ist illegal verband sich gegen die Komplizenschaft der Fluggesellschaft Lufthansa mit dem Staat bei der Ausschaffung von Menschen. Die Kampagne startete mit einer Image-zerstörenden Aktion, bei der sie mit einer neuen Budgetklasse namens „Deportation class“ Werbung für die Lufthansa machte. Das wären Sitze neben Menschen in Handschellen und Klebeband über dem Mund – die Preise sind dafür günstiger. Sie verwendeten Flyer, hackten die Webseite der Lufthansa, tauchten an der GV und bei Pressekonferenzen der Lufthansa auf und performten Ausschaffungen am Flughafen. Sie erreichten zwar nicht die Verhinderung von Ausschaffungen an sich, doch die Lufthansa führt keine Ausschaffungen mehr durch.
The Space Hijackers (Die Raum Entführer)
The Space Hijackers (Die Raum Entführer) irritierten bis 2014 den öffentlichen Raum in London. Sie kämpfen gegen die Beeinträchtigung des kollektiv geteilten Raumes durch Organisationen, Stadtplaner*innen und andere Schelme. Beispielsweise haben sie es strategisch ausgeklügelt geschafft, in eine Waffenhandelsmesse mit einem Panzer einzubrechen und ihn dort zu versteigern. Auf ihrer Webseite haben sie eine umfangreiche Dokumentation all ihrer Aktionen aufgeführt: Zum Beispiel ein Onlinetest: https://spacehijackers.org/amIananarchist/index.html
Biotic Baking Brigades
Die Biotic Baking Brigades ist ein loses Kollektiv, das berühmten Menschen, die „Verbrechen gegen Menschen und Land verüben“, Kuchen ins Gesicht wirft. Es schreibt auf seiner Webseite: “Dieses Aufbäumen hat seine Wurzeln nicht im Glauben, dass unser Planet stirbt, sondern er wird getötet und die, die das Töten verursachen, haben Namen und Gesichter.“
https://web.archive.org/web/20030622231356/ http://www.bioticbakingbrigade.org:80/index.html
Festival über unkonventionelle Kunst, bei dem sie auftraten:
http://theinfluencers.org/en/biotic-baking-brigade 
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS)
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) in Berlin ist ein Zusammenschluss von Aktionskünstlern, die im Namen des „aggressiven Humanismus’“ diverse Aktionen in Deutschland und der Schweiz inszenieren. Eine Aktion nannte sich „Europäischer Mauerfall“. Dabei wurden bei einer Gedenkstätte für die Toten an der Berliner Mauer die Kreuze abmontiert und für den 25. jährigen Gedenktag des Mauerfalls zu ihren Brüdern und Schwestern an die EU-Aussengrenze gebracht. Provokation und Aufruhr ist das Mittel ihrer Aktionen. Die empörten und angriffigen Zeitungsartikel, die über die verschiedenen Aktionen verfasst wurden, schmücken wie Trophäen die Webseite des ZPS.  Interview mit einem Aktivisten:
https://www.vice.com/de/article/znk3vw/die-neuen-mauertoten-europas-772
Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag
Im September 2000 fanden Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag statt. Der Schwarze Block von ungefähr 5000 Menschen hatte riesige blaue Bälle dabei. Darauf stand in oranger Schrift „Balls to the IMF“. Der Plan war die Belagerung des Treffens, doch, wie erwartet, verunmöglichte die zahlreiche, schwer bewaffnete Polizei das Vorhaben. Das Gefecht ging los, die Wasserwerfer wurden eingesetzt – das ist der Moment der Bälle. Sie verkörperten die Vorhersehbarkeit der Repression, sind eine scherzhafte Vorwegnahme, was passieren würde, die Vorbereitung auf die Front und der Versuch eines spielerischen Umgangs damit. (Interpretation von Christian Scholl) Folgende zwei Filme zeigen die Verwendung der blauen Bälle. https://www.youtube.com/watch?v=iXn6Kv6_pqw, https://www.youtube.com/watch?v=GIVvBF_7JDo
Gemälde als Barrikaden
1849 gab es in Dresden einen sozialistischen Aufstand, der von preussischen Truppen bedroht wurde. Mikhail Bakunin schlug vor, Gemälde aus den nationalen Museum zu benutzen um sie vor die Barrikaden zu hängen. So sollten die bürgerlichen Gefühle provoziert werden und ein Angriff verhindert werden. Der Vorschlag setzte sich nicht durch, nicht alle wollten damals die Kunst instrumentalisieren.
Aus dem Sammelband Cultural Activism – herausgegeben von Begüm Özden Fırat and Aylin Kuryel.
Tute Bianche (Die Weissen Overalls)
Tute Bianche (Die Weissen Overalls) entstanden aus einer Repressionswelle in Italien. Die Aktivisten haben mit Kissen ausgefüllte weisse Overalls getragen, um sich vor Polizeigewalt zu schützen und an Orte zu gelangen, die gewaltsam abgeschottet werden. Sie wollten soziale Konflikte sichtbar machen – aufzeigen, wer Gewalt ausübt und damit trotzdem die Mächtigen konfrontieren. Das Bild eines ausgepolsterten, sich schützenden Aktivisten gegenüber einem massiv bewaffneten Polizisten spricht für sich selbst. Sie haben bei einem Protest in Barcelona Plexiglasschilder benutzt, auf die sie Bilder von Kindern klebten, wie sie auf Spendeaufrufen abgebildet sind.
https://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/tute/
https://www.azzellini.net/zapatisten/die-tute-bianche-weisse-overalls
Zwarte Piet is Racisme
Das Projekt Zwarte Piet is Racisme wurde 2013 in Amsterdam ins Leben gerufen. Dabei wird die Tradition vom Schwarzen Peter, dem Begleiter des Sinterklas, als rassistisch angeprangert. Das Projekt hat eine breite mediale Beachtung gefunden und wurde emotional-kontrovers diskutiert. Sie haben das Logo „Zwaarte Piet is Racisme“ auf T-Shirts gedruckt, Diskussionen und Proteste veranstaltet, sowie eine gefälschte UN Meldung herausgegeben, in der es hiess, dass eine Rassimusanklage gegen die niederländische Regierung abgeklärt wird.
Proteste Lampedusa
Seit über 10 Jahren finden auf Lampedusa immer wieder Proteste von vielen geflüchteten Menschen statt. Im Januar 2009 haben sie dabei das „eigene“ Flüchtlingslager angezündet. Sie fordern die Möglichkeit, sicher zu reisen und an den Bestimmungsort gehen zu können, den jede*r selbst wählt. Die Gruppe Askavusa Lampedusa informiert darüber und stellt konkrete Forderungen in Form von Appellen an die Staatsorgane. Ausserdem führt sie einen Blog und begleitet einzelne Menschen dabei, ihre Rechte einzufordern. Am 2.1.2018 haben sie in einem Haus in der Nähe des Hotspots einen Mann hängend gefunden – die letzte Form des Protest. Sie sagen: „Das ist das extremste Ereignis einer Serie von Selbstschädigung, die die zum Bleiben Gezwungen sich selbst angetan haben.“
https://medium.com/@AreYouSyrious/ays-daily-digest-05-01-2018-the-trickle-down-effect-d957f1623b03
NOBESE action group
Die NOBESE action group wurde 2005 geformt, um gegen die Überwachung in Istanbul in Aktion zu treten. Es wurden Flugblätter bei der Eröffnung des neuen Überwachungssystems verteilt und Strassenaktionen durchgeführt, in denen Überwachung und Kontrolle in Performances auf der Strasse gezeigt wurde. Die Kameras wurden fotografiert und mit Ferngläsern betrachtet und Stickers “evil eye” verteilt. Die Aktionen wurden mit Musik begleitet, um möglichst viel Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum zu erzielen.
Theater der Unterdrückten, Unsichtbares Theater
Beim Theater der Unterdrückten werden Situationen, in denen Menschen nicht handlungsfähig sind, nachgespielt und gemeinsam neugestaltet. Daraus ist später das Unsichtbare Theater gewachsen. Dabei werden im öffentlichen Raum Situationen inszeniert, die auf politische Themen hinweisen und den unwissenden Beteiligten eine Erfahrung ermöglichen. Das unsichtbare Theater entwickelte sich, weil offener Protest aufgrund der Repression nicht möglich war.
Weiteres zum Nachlesen
-Weitere Bücher zu kreativen Interventionen:

https://www.goodreads.com/book/show/755962.The_Interventionists
-Handbuch der Kommunikationsguerilla, das verschiedene Formen davon beschreibt und diskutiert:
http://kommunikationsguerilla.twoday.net/topis/a.f.r.i.k.a.-texte/
Die Siuationisten und Dadaisten, die es leider nicht mehr in die Liste geschafft haben.
http://library.nothingness.org/articles/SI/en/
-Anarchistische Rezeptbücher:
https://de.scribd.com/doc/11251441/The-Anarchist-Cookbook-by-William-Powell-1971
http://bnrg.cs.berkeley.edu/~randy/Courses/CS39K.S13/anarchistcookbook2000.pdf
https://crimethinc.com/books/recipes-for-disaster
-Ein Podcast zu der „Hedonistischen Internationalen“:
https://cre.fm/cre185-hedonistische-internationale
-Werk, das weitere direkte Aktionen erklärt und diskutiert:
Direkte Aktion von David Graeber

Bei der Erarbeitung der Liste hat die Autorin darüber nachgedacht, dass es gut ist, ein Bewusstsein zu haben, was mensch will: provozieren – auf was hinweisen – Gefühle ausleben – sich organisieren und Banden bilden – Verhältnisse zu dekonstruieren – nach Alternativen zu suchen – Utopien leben – viel mediale Aufmerksamkeit für ein Thema – sich einem Thema einfach irgendwie zuwenden und einfach irgendwas damit machen – Solidarität zeigen – eine Debatte entfachen – ein konkretes Ziel verfolgen – parallele Organisationen und alternative Wege im bestehenden System schaffen – die Lebensbedingungen im gegebenen Strukturen / Situationen verbessern. Weiter stellt sich die Schwierigkeit der Übereinstimmung von Zweck und Aktion, die Ungerechtigkeit in den unterschiedlichen Handlungsspielräumen, der Konflikt zwischen Absicht und Ergebnis, das Verhältnis und die Wahrnehmung im Einsatz von verschiedenen Mitteln in gegebenen Kontexten, die Instrumentalisierung der Situation gegen die mensch sich wehrt – oder ob damit das eigentliche Ziel oder die Ideologie sabotiert wird – und weshalb das dann so ist. Sie hofft, dass sich Leser*innen von den Beispielen, die passen, für eigene Aktionen inspirieren lassen, oder – noch besser – bei dem, was nur so halb gefällt, weiterdenken, wie es verändert werden müsste, damit es für sie Sinn ergibt.

Gesetzesvollstrecker*innen oder Bullen? zum Sprachgebrauch im FIASKO

Wie zu jeder FIASKO-Ausgabe fand auch letztes Mal ein öffentlicher Diskussionsabend statt. Dieser sollte unter anderem als Plattform für Kritik und Anregungen dienen. Ein Kritikpunkt, der an diesem Abend aufgebracht wurde, bezog sich auf den Sprachgebrauch im FIASKO. Begriffe wie „Bullen“ und „Knast“ würden auf einige Leser*innen abschreckend wirken und dazu führen, dass das Fiasko in „die Schublade links aussen“ eingeordnet werde. Daraus resultiere eine geringere Reichweite des Magazins, da sich Leser*innen durch die verwendete Sprache nicht angesprochen fühlten oder gar eine Abwehrhaltung einnehmen könnten.
Diese Zeitschrift hat sehr wohl den Anspruch einer kritische Intervention gegen Migrationsregime und eine Einbettung dieser Kritik in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Somit ist es legitim, von links-aussen zu sprechen. Einige Fragen kommen auf: Wer wird abgeschreckt von dieser Haltung? Weshalb? Und was bedeutet diese Schubladisierung für uns? Wen möchten wir überhaupt erreichen? Und mit welchen Mitteln? Wie können wir Inhalte und Positionen klar vertreten, ohne dabei Leser*innen abzuschrecken, für die manche Themen oder Formulierungen ungewohnt oder neu sind? Im Folgenden möchten wir uns dieser Kritik an unserem Sprachgebrauch widmen und einige Gedanken dazu teilen:

 

1. Die (deutsche) Sprache ist Ausdruck des patriarchalen Systems, in dem wir leben. Daher ist es wünschenswert, dass mit neuen oder alternativen Vorstellungen auch neue Begriffe, Wörter und Satzstrukturen gefunden werden. Diese können wiederum befreitere Denkstrukturen hervorrufen.

2. Wir sehen also einen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und Gesellschaftskritik. Ein Beispiel hierfür ist das Gender-Sternchen (*), oder der Begriff geflüchtete Person anstelle des verniedlichenden und herablassenden Begriffs Flüchtling. Wir begrüssen einen mutigen, selbstkritischen Umgang mit Sprache und Begriffen.

3. Kontinuität spielt eine wichtige Rolle. Liest mensch einmal einen Begriff, über den er*sie stolpert, der provoziert, kann das schnell zu Unverständnis und Distanzierung führen. Möglicherweise wird aber genau dadurch eine inhaltliche Grundsatzdiskussion befördert.

4. Über Begriffe und deren Inhalt kann mensch streiten. Wenn wir bei den genannten Beispielen Knast und Bullen bleiben, so können die salonfähigeren Begriffe Gefängnis und Polizist*innen in bestimmten Kontexten verharmlosend sein. Die Sprache verliert an Deutlichkeit. Gleichzeitig kann kritisiert werden, dass diese Begriffe keine neuen Bilder, kein weiterführendes Denken befördern, da die Wörter nicht überraschend eingesetzt werden, sondern eher in einem bestimmten Slang verharren.

5. Das FIASKO-Kollektiv hat bis auf wenige Ausnahmen (Siehe Punkt 8) keine homogene Sprache. Es ist uns wichtig, dass alle Autor*innen bewusst entscheiden, welche Begriffe treffend sind. Es gibt in diesem Sinne keine Vorgaben für den Sprachgebrauch, was sich auch in der jetzigen Ausgabe widerspiegelt.

6. Daraus geht hervor, dass eine eindeutige Haltung zu solchen Begriffen für uns nicht angebracht ist. Viel wichtiger ist uns ein bewusster, reflektierter und emanzipatorischer Gebrauch von Sprache und Wortwahl, passend zu den jeweiligen Texten.

7. Zu einem bewussten Umgang gehört kritische Selbstreflexion. Was passiert, wenn ein Begriff zu Mainstream wird: Hat die gewünschte Veränderung stattgefunden oder ging der emanzipatorische Charakter verloren? Wurde der Begriff zu einer inhaltsleeren Worthülse? Könnte ein Begriff diskriminierend oder ausschliessend wirken? Etc.

8. Ein paar grundsätzliche Entscheidungen sind uns dennoch wichtig. Im FIASKO soll in allen Texten das Gender-Sternchen (*) verwendet werden. Dadurch werden auch diejenigen Menschen sprachlich berücksichtigt, die sie nicht mit den Begriffen Mann oder Frau identifizieren und dadurch Diskriminierung ausgesetzt sind. Ausserdem ist eine rassistische, sexistische, patriarchale, antisemitische oder andersartig diskriminierende Sprache in dieser Zeitschrift mehr als unerwünscht.

…ja, der nächste Diskussionsabend kommt, weitere Texte wohl auch. Vor lauter Sprechen das Handeln nicht vergessen, yalla!

 

Aus dem ethymologischen Wörterbuch

-Knast (ugs. für:) „Freiheitsstrafe; Gefängnis“: Das seit dem 19. Jh. bezeugte Wort stammt aus der Gaunersprache, vgl. jidd. knas „Geldstrafe“, kansen „(mit Geldbusse) bestrafen“, hebr. Qenas „Geldstrafe“.

-Bulle: Das im 17.Jh. aus dem Niederd. ins Hochd. übernommene Wort geht zurück auf mnd. bulle „(Zucht)stier“, vgl. gleichbed. niederl. bul, engl. bull, aisl. boli. Die Bezeichnung des Stiers gehört zu der unter Ball dargestellten idg. Wurzel *bhel- „schwellen“ und ist z.B. eng verwandt mit griech. phallos „männliches Glied“ und air. ball „männliches Glied“. Der Bulle ist also nach seinem Zeugungsglied benannt.

Migration in kontrollierte Bahnen lenken 1 „Migration Management“ und die IOM

Ich wurde einmal mit der Frage konfrontiert, warum sich meine Kritik am Migrationsregime oft auf eine Kritik an Nationalstaaten, Grenzen, Kapitalismus, Herrschaft, usw. beschränkt. Die „International Organization of Migration“ (IOM) sei eine richtig wüste Organisation, welche es genauso verdient hätte, in den Fokus von Widerstand zu geraten. Natürlich gab und gibt es viele Menschen, welche sich mit der IOM auseinandergesetzt haben, Wissen gesammelt haben und Kritik an ihr üben. Ich fühlte mich ertappt und hatte Lust, mich mit der IOM auseinanderzusetzen, da sie als ein weiterer Akteur auf die Migrationspolitik von Staaten Einfluss hat.

Die rassistischen Polizeikontrollen von Menschen mit dunkler Hautfarbe sehe ich als eine systematische Praxis, nicht weil ich davon ausgehe, dass alle Bullen Nazis sind, (obwohl es wohl sehr viele davon bei den Bullen hat), sondern aufgrund ihrer Häufigkeit und dem offensichtlichem Ziel, diesen Menschen das Leben in der schweiz zur Hölle zu machen. Das Wort Systematik bekam für mich eine weitere Bedeutung, als ich las, dass diese Praxis Teil eines Konzeptes ist, welches seit ca. 20 Jahren international immer beliebter wird. Das Konzept heisst „migration management“ und gilt als Konsens westlich-liberaler Staaten, wie mit Migration umgegangen werden soll. Die IOM spielt eine wichtige Rolle in der Verbreitung und Umsetzung dieses Konzeptes, das sie eine „globale Strategie“ nennt. Dieser Text soll ein Versuch sein, sich dem Konzept und der IOM zu nähern und einige Gedanken darüber zu teilen.

Das „migration management“

Das „migration management“ wurde hauptäschlich von der IOM entwickelt, mit dem Ziel, die staatliche Kontrolle über die Bewegung von Menschen radikal zu modernisieren, indem in den verschiedenen Ländern2 und für die verschiedenen Formen von Migration eine einheitliche Verwaltung angestrebt wird. Trotz den vielen individuellen Gründen, ein Land zu verlassen, unterscheidet die IOM nur drei Formen der Migration: legale, illegale und erzwungene Migration.

Was ist die IOM?
Die IOM wurde 1951 im Kontext des Kalten Krieges auf Initiative westlicher Staaten hin gegründet. 1952 hiess die Organisation noch „Zwischenstaatliches Komitee für europäische Auswanderung“. Sie sollte die Migration nach dem Zweiten Weltkrieg ökonomisch und politisch „sinnvoll“ organisieren und siedelte in den 1950er-Jahren fast eine Million Menschen um. Mit der Zeit wurde sie immer grösser und wird heute als die „führende zwischenstaatliche Organisation im Bereich Migration“ gefeiert. Die IOM hat 166 Mitgliederstaaten, wobei ihr Sitz, wie bei so vielen anderen internationalen Organisationen auch, in Genf liegt.

Das Konzept ist eine Reaktion darauf, dass die westlichen Staaten in den 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre das Gefühl hatten, dass ihre staatlichen Kontrollapparate die Migration nicht mehr wie gewünscht unter Kontrolle hatten. Es waren Bürgerkriege in afghanistan oder angola, die von westlichen Staaten aufgezwungenen neoliberalen Reformen wie Strukturanpassungsprogramme, jahrelange wirtschaftliche Ausbeutung, politische Repression oder einfach das legitime Interesse von Menschen, bessere oder andere Lebensumstände zu finden, die zu Migrationsbewegungen führten, denen sich die westlichen Staaten nicht mehr gewachsen fühlten. Neben Anderen stellte sich auch die IOM gegen Stimmen, die sich für eine komplette Abschottung gegenüber jeglicher Einwanderung aussprachen. Stattdessen sprach sie von den Chancen der Migration, wenn es den Staaten gelinge, die Vorteile der Migration zu maximieren und die negativen Folgen zu minimieren.

Was mit positiv und negativ gemeint ist, entspricht ganz der neoliberalen Logik: Es wird unterschieden zwischen „nützlichen“ und „nutzlosen“ Migrant*innen, bezogen auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit. Als nützlich werden Migrant*innen angesehen, welche der kapitalistischen Produktion als billige Arbeitskräfte oder als gut ausgebildete Spezialist*innen dienen können. Als nutzlos jene, die keinen Platz in der Wirtschaft haben und deshalb illegalisiert werden. Letztere sind dem Jagdtrieb der Bullen oder der Grenzwache ausgeliefert, werden eingesperrt und gewaltvoll ausgeschafft. Für die IOM ist Migration also nicht per se eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität eines Staates, sondern kann in bestimmten Formen wirtschaftlich lukrativ sein und soll darum gefördert werden.
Um gleichzeitig den positiven Nutzen aus den einen Menschen zu ziehen und die unerwünschten Menschen effektiv abwehren zu können, muss nach Angaben der IOM Ordnung in das Thema Migration gebracht werden und zwar international auf kohärente Weise. Das Herzstück des „migration management“ ist eine Kategorisierung anhand welcher jeder Staat die Menschen schön ordentlich einstufen kann.

1. Legale Migration, welche unterstützt werden soll:

Hochqualifizierte Arbeitskräfte, Tourist*innen oder Student*innen sind ökonomisch erwünschte Zuwanderer*innen und erhalten vereinfacht ein Visum und weitere Privilegien.

2. Illegale Migration3, welche bekämpft werden soll:

Ein Mensch, welcher nach der Genfer Konvention nicht als „Flüchtling“ anerkannt wird, wird illegalisiert. Dieser Mensch ist ökonomisch unerwünscht, hat keine Möglichkeit, legal zu arbeiten oder zu wohnen und lebt immer mit der Gefahr, in Haft gesteckt und ausgeschafft zu werden.

3. Erzwungene Migration, welche Schutz erhalten soll:

Offiziell anerkannten „Flüchtlingen“ sollen vom Staat geholfen werden. Dadurch kann das selbstkonstruierte Bild des humanitären Handelns in westlichen liberalen Staaten bewahrt werden.

Die IOM ist jener Akteur auf internationaler Ebene, der das „migration management“ am stärksten vorantreibt. Alle Programme der IOM entsprechen diesem Konzept. Die zugrundeliegende Denklogik, Migration entlang von wirtschaftlichen Prinzipien zu organisieren, ist in allen Programmen dieselbe.
Die IOM bildet zum Beispiel Grenzwärter*innen für eine Perfektionierung des Grenzregimes aus, führt sogenannte „freiwillige Rückkehrprogramme“ durch (also Ausschaffungen), hilft Staaten bei der weltweiten Vermittlung von hochqualifizierten Arbeitskräften oder betreibt Informationskampagnen mit dem Ziel, potentielle Migrant*innen abzuschrecken.

Die Macht und der Einfluss der IOM auf die Migrationspolitik

Die Finanzierung der IOM findet durch die Mitgliedstaaten statt. Es wird allerdings unterschieden zwischen einem administrativen Teil, in den alle einzahlen müssen und einem operationellen Teil, welcher die Durchführung der Migrationsprogramme beinhaltet, in den die Mitgliedstaaten freiwillig einzahlen können. Die Liste der Spenderstaaten für den operationellen Teil im Jahr 2016 zeigt, dass die usa mit 533 Millionen US- Dollars mit Abstand am meisten Geld einzahlt. Darauf folgen england, kanada, deutschland, australien, schweden und die eu, die kein Mitglied ist. Die schweiz beteiligte sich im selben Jahr mit 6 699 200 US-Dollars an den Programmen der IOM.4

Es sind alles Staaten, welche ein grosses Interesse daran haben, Migration zu beschränken, und wohl auch am meisten von den Programmen der Organisation profitieren. Diese Wohlstandsstaaten5 verdienten ihr Geld hauptsächlich durch die jahrelange Ausbeutung, Unterdrückung und Zerstörung von Lebensräumen in anderen Ländern. Gleichzeitig besitzen sie die Arroganz, ihre Werte und Normen als universal gültig zu erklären und anderen Staaten aufzuzwingen.

Eine „International Organization“ (IO) soll die Kooperation zwischen Staaten vereinfachen, so lautet oftmals die Begründung für die Existenz einer IO. So auch bei der IOM: „IOM works (…) to promote international cooperation on migration issues,…“. Klar kann von Kooperation gesprochen werden, dann wäre aber auch die Verhandlung über den Zugang zum Wassertrog zwischen dem Wolf und dem Schaf Kooperation. Meiner Meinung nach ist eine IO wie die IOM ein Instrument, mit dem die westlichen Staaten ihre Normen und Werte universal durchzusetzen versuchen. Die Resultate dieser angeblichen Kooperation widerspiegeln die herrschenden Machtverhältnisse zwischen Staaten. Zum Beispiel kann über die IOM Druck auf die Herkunftsstaaten von Migrant*innen ausgeübt werden, ihre eigene Migrationspolitik am Ansatz des „migration management“ zu orientieren, ohne dass den westlichen Staaten die Verletzung des Souveränitätsrecht vorgeworfen werden kann. Dies geschieht zum Beispiel beim „African Capacity Building Centre“ (ACBC) der IOM. Dieses Zentrum ist dafür da, afrikanischen Staaten bei allen Fragen rund um „migration management“ zu helfen. Konkret werden Trainings zur Vereinheitlichung der Grenzkontrollen, zur Bekämpfung von Menschenschmuggel und der Kontrolle von Pässen durchgeführt.

Es gibt auch Stimmen, welche IOs als vollkommen eigenständige Akteure mit eigener Macht sehen, welche unabhängig von den Interessen der Staaten handeln. Ich denke zwar nicht, dass die IOM ein pures Instrument ist, doch wenn von der IOM als eigenständiger Akteur gesprochen wird, können sich Staaten aus der Verantwortung ziehen und gewisse Migrationsarbeiten, welche gegen internationales Recht oder UN-Konventionen verstossen, an die IOM auslagern. Sie können dann weiter das Bild eines die Menschenrechte achtenden, humanitären und rechtsstaatlichen Staates zeichnen und mit dem Finger auf andere zeigen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es gibt genügend Beispiele die aufzeigen, dass die westlichen Staaten einen Kack auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ oder das Völkerrecht geben, doch wenn die Möglichkeit besteht, dies zu kaschieren, wird das gerne gemacht.
Ob Internationale Organisationen nun Instrumente von Staaten oder eigenständige Akteure sind, mit dieser Frage beschäftigen sich Männer und Frauen aus wissenschaftlichen Kreisen zur Genüge. Ich habe eigentlich keine Lust darauf, Position zu beziehen und mich einer Theorie anzuschliessen, nur, um danach zu meinen, die Welt erklären zu können.

Die „freiwillige Rückkehr“

Je länger ich mich jeweils mit der internationalen Ebene und seinen Akteuren auseinandersetze, desto mehr kommt sie mir wie ein zynisches Spielfeld für verschiedenste Akteure (Staats-männer und frauen, IO, NGOs, wirtschaftliche Interessengruppen usw.) vor. Doch bei der theoretischen Auseinandersetzungen mit Migrationsmechanismen geht vergessen, dass all dies konkrete Auswirkungen auf die Lebensrealität zahlreicher Menschen hat. Vielleicht werden diese Auswirkungen besser sichtbar, wenn ich ein bestimmtes Programm der IOM vorstelle: „die freiwillige Rückkehr.“ Ausschaffungen gelten als staatlich autorisierter Umgang mit Menschen, welche keine Staatsbürger*innen sind, sich aber auf staatlichem Territorium befinden. Ausschaffungen sind in westlichen Staaten sehr beliebt, da damit Migrant*innen mit einem negativen Asylentscheid aus dem eigenen Staatsgebiet verbannt werden können. Trotz der Legitimität dieser Praxis ist sie nicht die eleganteste Art eines angeblich humanitären Staates wie der schweiz, da sie erzwungen und gewaltvoll ist und somit zu unschönen Geschichten und Bildern führt.
Die IOM bietet den Staaten eine alternative Vorgehensweise an, die besser klingt: „Freiwillige Rückkehr und Reintegration“. Die Grundidee ist, dass über finanzielle Anreize und technische Unterstützung die Mitwirkung der Migrant*innen bei ihrer eigenen Ausschaffung erreicht werden kann. Damit soll nach Angaben der IOM:

„..den Migrantinnen und Migranten, die nicht im Aufnahmeland bleiben können oder wollen, (…) eine menschenwürdige Rückkehr und Reintegration in ihrem Heimatland ermöglicht werden.“

Es wird als eine „win-win Situation“ verkauft: Die Migrant*innen bekommen durch die finanzielle Rückkehrhilfe eine Lebensperspektive in ihrem Herkunftsland und für den Staat ist es eine kostengünstige Alternative zur „Zwangsausschaffung“.
In der schweiz bekommen Migrant*innen bei einer freiwilligen Rückkehr direkt aus dem „Empfangs- und Verfahrenszentrum“ (EVZ) 500.-. Nach einem Aufenthalt über 3 Monate in der schweiz sind es 1000.-. Zudem besteht die Möglichkeit, materielle Zusatzhilfe von bis zu 3000.- für ein sogenanntes „Eingliederungsprojekt“ im Herkunftsland zu erhalten. Zum Beispiel für den Aufbau einer Bäckerei oder eines Kiosks.

Die IOM führt diese Rückführungen nicht komplett selbstständig durch, sondern bietet den Staaten ihre Dienste an und bekommt Aufträge wie ein Unternehmen. Auch die schweiz nimmt diese Dienste der IOM in Anspruch. Ein Beispiel ist das „freiwillige Rückkehr und Reintegrationsprogramm“ für Nigeria, welches seit 2005 existiert, vom „Staatssekretariat für Migration“ (SEM) finanziert und von der IOM Bern durchgeführt wird. Dieses Programm stellt eine Menge Angebote zur Verfügung: Rückkehrberatungen in der schweiz, Bereitstellung von allen Informationen bezogen auf die Rückkehr, Initiierung der finanziellen und medizinischen Unterstützung, Organisation der Rückkehr und Organisation der Reintegration im Herkunftsland.

Auch wenn die IOM von einer „Win-win Situation“ spricht, ist der Gewinn für die schweiz so gross, dass der Gewinn für die Migrant*innen nur schwer zu erkennen ist.
Die „freiwillige Rückkehr“ ist wirtschaftlich sehr lukrativ für die schweiz. Während sie dem Migrant oder der Migrantin bei der „freiwilligen Rückkehr“ im schlimmsten Fall 4000.- bezahlen muss, kostet sie eine Level-4-Ausschaffung zwischen 8000 und 10`000.- . Dazu kommt noch 140.- für jeden Tag in Ausschaffungshaft, was bei den maximalen 18 Monaten ca. 70`000.- sind.6

Es gibt Länder, welche nicht zulassen, dass Bürger*innen ihres Landes mittels „Zwangsausschaffung“ zurückgeschafft werden. „Freiwillige Rückkehrungen“ sind dann meistens die einzige Möglichkeit für eine Ausschaffung. Menschen aus solchen Ländern müssen also einfach dazu gebracht werden, diese „freiwillige Rückkehr“ zu akzeptieren. Die Mittel, um einen Menschen an diesen Punkt zu bringen, sind zahlreich: Bis zu 18 Monate Ausschaffungshaft, hohe Bussen, Gefängnisstrafen wegen „illegalem Aufenthalt“, Arbeitsverbot, ca. 8.- Nothilfe pro Tag, Schlafplätze in Zivilschutzanlagen, oft unter der Erde usw. Spannend, dass bei dieser Art von Rückkehr die Freiwilligkeit und Zwanglosigkeit so hoch gelobt wird.
Mit diesem Ausschaffungssystem voller freier Entscheidungen kann der Migrant oder die Migrantin auch für die gewaltvolle Ausschaffung selbst verantwortlich gemacht werden. Die schweiz gibt ihnen ja die Möglichkeit, freiwillig auszureisen und dazu noch Geld zu bekommen. Urs von Arb vom Staatsekretariat für Migration bedauert, dass es Menschen gibt, die dieses Angebot nicht annehmen wollen und ihn zwingen „Zwangssauschaffungen“ anzuwenden:

„Aber es gibt leider Leute, die nicht freiwillig gehen wollen. Also sagen wir: Hör zu, wir buchen dir einen Flug. Aber die Person weigert sich noch immer. Sie lässt sich nicht von der Polizei auf ein Flugzeug begleiten. Dann sagt die Polizei: So geht das nicht. Die Person muss auf Level 4 ausgeschafft werden.“

Ist eine Level-4-Ausschaffung also auch eine freiwillige Rückkehr? Oder bezieht sich das Wort Freiwilligkeit bei der „freiwilligen Rückkehr“ auf den Entscheid, „freiwillig“ auf körperliche Gewalt zu verzichten oder „freiwillig“ dem Druck nicht mehr stand zu halten, welcher von den Behörden und dem Gewaltapparat auf einen Menschen ausgeübt wird?
Entweder werden alle Arten von Ausschaffungen als freiwillig bezeichnet, dann ist der Begriff ohne Bedeutung. Oder aber alle Ausschaffungen werden als das gesehen was sie sind: Gewaltvolle, erzwungene und menschenunwürdige Praktiken, angeordnet von einem Staat gegen einen Menschen, welcher den falschen Pass besitzt.

Ja, die IOM ist eine wüste Organisation

Es ist mir wichtig, dass auch die IOM im Kampf gegen das Migrationsregime Ziel von Kritik und Widerstand ist. Ihre Migrationsprogramme und Angebote beinhalten die Organisation von Ausschaffungen, die Verbesserung von Grenzkontrollen, das Drehen von „Abschreckungsvideos“ über die schweiz und Einiges mehr, was absolut beschissen ist.

Meine Hauptkritik an der IOM verbindet sich aber wieder mit der Kritik an Nationalstaaten, dem Kapitalismus, der Herrschaft usw. Denn für mich ist klar, dass die IOM für die westlichen Staaten von grossem Nutzen ist, um ein weiteres Feld der internationalen Politik unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Kontrolle über die Migrationspolitik anderer Staaten, versuchen die westlichen Staaten demnach nicht nur über Entwicklungshilfe oder andere Machtspiele zu erreichen, sondern auch dadurch, dass die Art und Weise, wie sie über ein Thema denken, universale Gültigkeit erlangt. Mit der Entwicklung und der Verbreitung des Konzeptes „migration management“ gibt die IOM vor, welche Formen von Migration es gibt und wie mit diesen umgegangen werden soll. „Migration management“ ist ein Konzept der westlichen Staaten, nach welcher alle Staaten ihr Handeln richten sollen. Es wird als einzige Lösung vorgegeben und soll Migration zum Vorteil aller Beteiligten in kontrollierte Bahnen lenken. Je hegemonialer dieses Verständnis von Migration in der Politik und im kollektiven Verständnis wird, desto natürlicher wird es, Menschen in Lager einzusperren oder aufgrund falscher Papiere auf der Strasse zu jagen.

Die Autorin sieht diesen Text als Versuch, einen weiteren Akteure dieses verhassten Migrationsregimes vorzustellen. Gewissermassen ist er aber auch eine Abrechnung mit der Zeit in den Hörsälen und Seminarräumen. Durch wissenschaftliche Texte und von dozierenden Personen lernte die Autorin das Spiel der Internationalen Politik etwas kennen. Die Spielregeln und die Existenz der Spieler selbst wurden jedoch kaum kritisch hinterfragt sondern als natürlich gegeben vermittelt.
Quellen

1 Der Titel ist gestohlen.
2 In den Herkunftsländern von Migrant*innen, die Länder die Migrant*innen auf ihrer Reise passieren (Transitländer) und in diesen Ländern, welche als Zielland gewählt werden.
3 Die IOM spricht von „irreguläre Migration“. „Illegale Migration“ wird von ihr für den Menschenschmuggel verwendet.
4 International Organization for Migration (IOM) (2015): 106th Session, Programm and Budget for 2016. https://governingbodies.iom.int/system/files/en/council/106/C-106-7-Programme-and-Budget-for-2016.pdf
5 Mit Wohlstandsstaaten ist die Ansammlung von Staaten mit einem hohe „Bruttoinlandprodukt“ (BIP) gemeint. Ich möchte damit nich sagen, dass alle Menschen in diesen Wohlstandsstaaten ein Leben in Wohlstand leben.
6 Die Daten stammen von 2011: Stellungnahme des Bundesrates von 25.5.2011.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20113045

Weitere Informationen

– Andrijasevic, Rutvica / Walter, William (2010): The International Organization for Migration and the international government of borders. Environment and Planning D: Society and Space. Vol. 28. Pp. 977-999.
– Ashutosh, Ishan / Mountz, Alison (2011): Migration management for the benefit of whom? Interrogating the work of the International Organization for Migration. Citizenship Studies, Vol. 15, No. 1, Pp. 21-38.
– Geiger, Martin / Pécoud, Antoine (2014): International Organisations and the Politics of Migration. Journal of Ethnics and Migration Studies, Vol. 40, No. 6, pp. 865-887.
– Hanimann, Carlos (2010): Im Grenzgebiet des Rechts. WOZ, Nr. 28/2010.
– IOM Bern: http://www.ch.iom.int/
– IOM: https://www.iom.int/

Kommentar zu drei Todesfällen von Geflüchteten im Herbst 2017 und einer Totgeburt im Jahr 2014

Innerhalb kürzester Zeit starben im Herbst 2017 drei geflüchtete Menschen aufgrund von Polizeigewalt in der Schweiz. In Brissago/TI wurde Subramaniam H. von einem Polizisten erschossen. In Lausanne wollte die Polizei Lamin Fatty aufgrund einer Verwechslung transferieren und hielt ihn in Gewahrsahm. Dem an Epilepsie leidenden Mann wurde medizinische Hilfe verweigert und er starb in seiner Zelle. In Valzeina/GR wurde ein junger Mann aus afghanistan von der Polizei solange gehetzt, bis er von einer Klippe stürzte und starb. Das Schweigen der Medien und die Folgenlosigkeit für die Mörder weisen darauf hin, dass in der Schweiz nicht alle Leben gleichviel zählen.
Diese Meinung vertrat anscheinend auch das Militärgericht, das Anfang Dezember einen Grenzwächter, der sich für die Totgeburt einer geflüchteten Frau zu verantworten hatte, zu einer ziemlich milden Strafe verurteilte. Dieser Grenzwächter ignorierte die Schmerzensschreie der Frau, das Blut, das ihr in die Hosen lief und die Bitten ihres Ehemannes, medizinische Hilfe zu besorgen, als sie 2014 am Bahnhof in Brig in den Räumen der Grenzwache eingesperrt waren. Er steckte sie in diesem Zustand in den Zug nach Domodossola und schob “das Problem” somit nach italien ab. Dort war das zu früh geborene Baby aber bereits tot. Die Frau war eingesperrt, sie befand sich in der Gewalt eines Mannes, den es nicht kümmerte, dass es Menschen sind, die er einsperrt. Die Frau hatte keine Möglichkeit, sich selbst um die medizinische Hilfe zu kümmer. Das Baby ist ein toter Mensch, ein getötetes Kind. Das ist die Schuld dieses Mannes, der währenddessen auf dem Bahnsteig stand und eine Zigarette rauchte. Das ist die Schuld eines Migrationsregimes, das Menschen aufgrund ihreer Bedeutung für die Ökonomie bewertet. Das ist die reale Manifestierung des Spruchs „Grenzen töten“.

Alltag in der Ausschaffungshaft – Ein Gespräch mit zwei inhaftierten Personen im Bässlergut

Das im Folgenden abgedruckte Gespräch fand während den offiziellen Besuchszeiten im Gefängnis Bässlergut statt. Vor dem grossen Gittertor drücken wir auf den roten Knopf und melden durch die Sprechanlage hindurch die Namen der Personen, die wir besuchen möchten. Das erste Tor öffnet sich, vor dem zweiten warten wir nochmals, werden schliesslich auch durch dieses hindurch gelassen und betreten nach ein paar Metern den überhitzten Eingangsbereich des Bässlerguts. Erst mal Winterjacke ausziehen, ID abgeben, Taschen verstauen, Anmeldeformular ausfüllen, durch das Drehkreuz hindurch und beim Metalldetektor vorbei. Wie immer wird man einzeln zum Besucherraum gebracht. Wir nehmen nach und nach alle Platz und warten. Schliesslich sitzen wir zu fünft am Tisch. Obwohl wir uns alle bereits kennen, wird das Interview von einem anfänglichen Misstrauen seitens der beiden befragten, inhaftierten Personen begleitet. Dies zeigt sich darin, dass nicht nur nach unserer Motivation, sondern auch nach der Erwerbstätigkeit und Zugehörigkeit einer (politischen) Gruppe oder eines (politischen) Vereines gefragt wird. Die beiden befragten Personen gehen mit dem Interview ein hohes Risiko ein, da sie aufgrund ihrer Position als Insassen schutzlos der Willkür der Wärter ausgeliefert sind. An dieser Stelle soll den beiden nochmals für dieses Gespräch gedankt werden.

Du stehst kurz vor deiner Level I-Ausschaffung.1 Wirst du dich dieser widersetzen?


B.:
Ich werde mit Level I ausgeschafft, ich halte es nicht aus, diese verschiedenen Stufen durchzumachen und dann beim dritten Mal auf solch gewaltvolle Weise ausgeschafft zu werden. Nein, darauf habe ich keine Lust. Momentan weiss ich noch nicht, wann ich genau ausgeschafft werde. Das wird mir erst etwa zwei bis drei Tage vorher mitgeteilt. Es bringt ohnehin nicht viel, sich zu widersetzen, da dies nur eine Verlängerung der Haft von zwei bis drei Wochen bedeuten würde.

N.: Das Problem ist, dass wir Ausländer sind und der Mensch dabei vergessen geht.

B.: Ich bin hier aufgewachsen und jetzt werde ich ausgeschafft. Ich habe keine Chance, bei meinem Kind zu bleiben. Ich möchte doch hier sein, mich um meine Familie kümmern und mein Kind aufwachsen sehen!
Eigentlich wollte ich ja nie Kinder in diese Scheisswelt setzen. Doch jetzt habe ich eines und jetzt muss ich gehen. Ich werde die ganzen Entwicklung meines Kindes nicht mitbekommen. Wie es zum ersten Mal isst, spricht oder geht.

Wie sieht denn euer Alltag hier im Bässlergut-Gefängnis aus?

B.: Um 07:15 machen die Wärter unsere Zelle auf, um 17 Uhr abends wird diese wieder geschlossen. In unserer Zelle sind wir zu dritt, es gibt einen Fernseher. Zudem gibt es auf unserem Stock einen Gemeinschaftsraum mit einer Küche, zwar mit einem grossen Tisch, aber nur mit zwei Stühlen. Gemütlich ist es da nicht.

N.: Kann man rausgehen, dann verteilt sich das ein bisschen: Ein paar gehen raus, ein paar bleiben drin. Pro Tag können wir einmal für eine Stunde und einmal für zwei Stunden in den Innenhof gehen.

Wie sieht es mit dem Essen aus?

B.: Morgens um 07:15 gibt es Frühstück, dann wieder etwas um 11 Uhr und um 17 Uhr abends. Nachbestellen liegt nicht drin. Einmal fragten wir die Wärter, ob wir eine Pizza bestellen könnten und diese dann selber bezahlen. „Fuck you“, kriegten wir zur Antwort.

N.: Einmal in der Woche ist ein kleiner Kiosk geöffnet, wo wir Lebensmittel, Getränke, Zigaretten und andere Dinge einkaufen können. Der ist aber völlig überteuert: Eine M-Budget Schokolade kostet hier ca. 2.-.

B.: Dann arbeite ich 2,5 Stunden und kann doch fast nichts kaufen!

Was arbeitet ihr denn?
N.: Abends kommen die Wärter jeweils und fragen, wer am nächsten Tag arbeiten möchte. Die Arbeitszeiten sind am Montag, Mittwoch und Donnerstag von 8:00 bis 10:30 und am Dienstag und Freitag von 14:00 bis 16:30.

B.: Jeweils zwei bis drei Leute sitzen zusammen an einem Tisch, um zu arbeiten. Gesprochen werden darf nicht. Wasser darf man nur auf der Toilette vom Wasserhahn trinken. Es ist nicht erlaubt, während der Arbeit Wasser zu trinken.

Was sind das für Arbeiten?
B.: Momentan machen wir vor allem Weihnachtsartikel: Wir stellen beispielsweise verschiedene Verpackungen zusammen und kleben Teile aneinander. Die fertigen Packungen werden dann nach Belgien geschickt, wo verschiedenes Zeug reingepackt wird. Von dort geht es weiter nach China. Ich weiss aber nicht, wer hinter diesem Auftrag steckt.

N.: Für die zweieinhalb Stunden erhält man jeweils 7.50.

B.: Letzte Woche war ich am Arbeiten als meine Frau und mein Kind vorbeikamen. Am Empfang fragten sie nach mir. Aber niemand kam und informierte mich darüber, dass meine Familie da sei und mich besuchen wolle. Also gingen sie wieder. Als ich das später erfuhr, fragte ich den Wärter, weshalb er mir nichts gesagt habe. Frau und Kind sind mir doch wichtiger als diese Scheiss 7,50! „Das sind eben die Regeln: Wenn du dich zur Arbeit einträgst, musst du arbeiten“, erhielt ich von diesem zur Antwort.

N.: Die Arbeit wird manchmal auch als Strafmittel genutzt, indem man zur Strafe nicht arbeiten darf und somit auch kein Geld zur Verfügung hat.

Und arbeitet ihr?
B.: Ja, ich arbeite regelmässig. Aber nicht wegen des Geldes. Nein, der einzige Grund ist, dass ich ab und zu meine Ruhe brauche. Denn diese Möglichkeit habe ich sonst nicht. Ständig hört jemand Musik, telefoniert oder spricht mit anderen Personen. Indem ich zur Arbeit gehe, kann ich diesem Trubel für kurze Zeit entfliehen.

N.: Nein, ich arbeite nicht mehr. Ich habe vor drei Monaten während der Arbeit einen kleinen Karton kaputt gemacht. Der war knapp eine A4-Seite gross…

B.: Das kann doch mal passieren, das ist uns allen schon passiert!
N.: …dafür habe ich fünf Tage Bunker gekriegt. Seit diesem Erlebnis arbeite ich nicht mehr. Ich will es nicht riskieren, noch einmal in die Isolationszelle zu gehen.

Kannst du uns etwas über diesen Bunker erzählen? Was kann man sich darunter vorstellen?
N.: Das ist eine Einzelzelle, die zur Bestrafung eingesetzt wird. In meinem Fall also für das Kaputtmachen einer kleinen Kartonschachtel bei der Arbeit. Während der Zeit im Bunker durfte ich einmal pro Tag alleine im Innenhof spazieren gehen, ansonsten verbrachte ich die gesamte Zeit isoliert in einem Raum, der ein kleines Fenster und einen Fernseher hat. Nach fünf Tagen konnte ich schliesslich wieder in meine andere Zelle zurück.

Was für eine medizinische Versorgung habt ihr?
B.: Es gibt zwei Ärzte, an die man sich wenden kann. Der eine ist aber überhaupt nicht hilfsbereit. Er verhält sich uns gegenüber aggressiv, da es oftmals sprachbedingte Missverständnisse gibt. Dem sind wir so scheissegal wie den Wärtern. Das merkt man daran, wie sie mit dir sprechen und wie sie dich generell behandeln.
Einer, der mal in unserer Zelle war, schluckte eine grosse Menge Shampoo. Er hatte psychische Probleme und lange nichts mehr gegessen, dafür rauchte er wie eine Maschine. Meint ihr, die Wärter seien sofort gekommen, als wir um Hilfe riefen? Erst nach einer Dreiviertelstunde waren sie hier. Möglich wäre das in fünf Minuten. Das ist auch wieder ein Zeichen dafür, dass wir hier nicht ernst genommen werden.

N.: Vor zwei Wochen bat ich meinen Psychiater, bei dem ich vor zwei Jahren war, er möge doch vorbeikommen, da es mir nicht gut gehe. Die Gefängniswärter sagten mir jedoch, dass das nicht ginge und ich das nicht tun dürfe.

Läuft man beim Drehkreuz vorbei zum Besucherraum, sieht man auf der rechten Seite einen Schrank voller Medikamente. Kriegt ihr denn Medikamente? Und was sind das für Medikamente?
B.: Ja, wir kriegen Medikamente. Sämtliche Medikamente, die wir einnehmen, sind aber bereits in Wasser aufgelöst. Es ist nicht möglich, dass du die Medikamente unaufgelöst – also in der Originalverpackung – kriegst. Ich wette, da hat es zusätzlich noch Temesta drin. Als ich fragte, ob ich mein Medikament in der Originalverpackung kriegen kann, wurde mir gesagt: „Halt deine Fresse, du Scheissausländer.“
Seither nehme ich keine Medikamente mehr ein, denn ich sehe, was mit allen anderen passiert: Entweder man wird ruhig und schläft oder man wird aggressiv. Dasselbe passiert übrigens auch nach dem Essen: Wir gehen alle nach dem Essen schlafen. Das ist doch nicht normal! Oder geht ihr etwa jedes Mal schlafen, wenn ihr gegessen habt? Da ist bestimmt auch irgendein Beruhigungsmittel drin.

Wie ist eure Beziehung untereinander?
B.: Wir sind grösstenteils für uns – jeder für sich in seinem Teil der Zelle. Jeder versucht die Probleme, die er hat, mit sich zu klären. Gerade wenn jemand schlecht behandelt wird, kann diese Person sehr aggressiv werden. Dann ist es besser, wenn man diese Person vorerst in Ruhe lässt. Zudem haben wir auch grundsätzliche Kommunikationsschwierigkeiten, da sehr viele verschiedene Sprachen gesprochen werden.

Man sagt, die Schweiz sei ein neutrales Land. Aber das stimmt einfach nicht. Die Schweiz ist ein Polizeistaat

Gibt es gemeinsame Widerstandsformen?
B.: Jemand trat einmal für sieben Tage in den Hungerstreik. Die Wärter steckten diese Person in den Bunker und verabreichten ihr irgendwelche Medikamente. Auch in unserer Zelle dachten wir schon ein paar Mal über einen gemeinsamen Hunger- oder Arbeitsstreik nach und waren das auch schon am Planen. Aber immer gab es ein paar, die nicht mitmachen wollten. Das verstehe ich auch: Wer Raucher ist, muss halt einfach arbeiten gehen. Das ist der Grund, weshalb solch geplanter Widerstand scheiterte.

N.: Eigentlich könnte man sagen, dass das Überleben hier darin besteht, stabil zu bleiben. Denn das wollen sie; uns psychisch kaputtmachen.

Spürt ihr eine Solidarität von „Aussen“?
B.: Nein, und wenn dann nur durch Besuche. Wer keine Besuche erhält, spürt keine Solidarität. Sobald du im Knast bist, bist du stigmatisiert, hast du keine Freunde mehr. Wenn du im Knast bist, sind plötzlich alle deine Freunde weg und niemand kommt dich besuchen. So läuft das.

Gegen wen richtet sich eure Wut?
N.: Als ich noch draussen war, wusste ich nicht, dass der Ausschaffungsknast so ist. Nun bin ich seit vier Monaten hier drin. Was hier mit Menschen gemacht wird, macht man sonst nirgendwo. Wenn ich mal rauskomme, werde ich in die Schweiz zurückkehren und diesen Ausschaffungsknast vernichten. Das ist mein Ziel geworden, seit ich hier drin bin.

B.: Als Ausländer kannst du wenig machen, um deine Situation zu ändern. Sogar wenn man hier geboren ist und einen Schweizer Pass hat, bleibt man für immer ein Ausländer. Dieser Blocher, der verdient jedes Jahr Millionen und hetzt gegen die Ausländer. Wer arbeitet denn bei ihm? Wer putzt sein Klo? Und der sagt Scheissausländer! In dieser Welt gewinnt der Stärkere. Das ist unsere Realität. Man sagt, die Schweiz sei ein neutrales Land. Aber wer liefert Waffenmaterial in die ganze Welt?
Man sagt, die Schweiz sei ein neutrales Land. Aber das stimmt einfach nicht. Die Schweiz ist ein Polizeistaat. Sobald die Staatsanwaltschaft entschieden hat, ist Feierabend. Ist dein Anwalt bei der SVP? Feierabend. Die dürfen uns Ausländer so stark und so oft beleidigen, wie sie wollen. Wir sind hier und müssen die Fresse halten.

Prison Sucks – 6 überraschende Gründe, weswegen wir Gefängnisse bekämpfen sollten

Das Gefängnis ist eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, sie scheint unangreifbar. Im politischen Spektrum ist von links bis rechts kaum Kritik an dieser Institution zu vernehmen. Das war auch schon mal anders, denn das Gefängnis ist ein eher modernes Phänomen. Hier sollen einige Ideen präsentiert werden, welche diese Selbstverständlichkeit aufbrechen können.
Selbst die radikale Linke hat sich in ihren Forderungen in den letzten Jahrzehnten immer mehr zurückgezogen. Während in den 70er- und 80er-Jahren die Entknastung1 der Gesellschaft noch im Zentrum stand, getraut man sich heute höchstens noch, die Freilassung „unserer“ politischen Gefangenen zu erwähnen.

 

Gefängnisse

Seit dem Altertum gibt es Gefängnisse, jedoch hatten sie lange keine mit heute vergleichbare Funktion. Menschen sind temporär bis zur Urteilsverkündung- oder Vollstreckung in Gefängnisse gesteckt worden, ähnlich dem, was uns heute als „Untersuchungshaft“3 geläufig ist. Zur Bestrafung wurden andere Methoden wie Bussgelder, Schandstrafen wie Pranger oder Verbannungen und Körperstrafen wie Prügel oder Todesstrafen ausgesprochen.
Auch Schuldgefängnisse sind weit verbreitet: Menschen sitzen ein, bis sie ihre finanziellen Schulden beglichen haben oder begleichen können. Heute hat sich das etwas verändert: Menschen sitzen nun ihre Bussen ab.

Erst später entstehen in England erste Arbeits- und Zuchthäuser. Darin werden soziale Randgruppen und Arme platziert, damit sie sich „bessern“ können. Von da an wird immer mehr auf die Bestrafung per Inhaftierung gesetzt, da diese Strafform gegenüber Schand- und Körperstrafen als humaner gilt. Sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert gibt es immer wieder Reformbemühungen und Bewegungen, die fordern, dass das Gefängnis zu einem Ort weiterentwickelt wird, in dem Menschen wahlweise gebessert oder bekehrt werden sollen.

Die Bestrafung verschwindet mit der Inhaftierung aus den Augen der Öffentlichkeit hinter hohen Mauern. Es etabliert sich ein komplexes, systematisches Gefängniswesen mit verschiedenen Stufen von Inhaftierung, von Hafterleichterungen, Ausgängen, Arbeit, Hofgängen und so weiter.
Eine Idee bleibt: Der Körper muss sich innerhalb dieses Gebäudes befinden und an die Weisungen der ausführenden Gewalt – häufig vom Staat eingesetzt – halten.

1. Grund: Es schafft mehr Probleme, als es löst

Neben der Tatsache, dass das Gefängnis selbst eine Form von Gewalt ist, werden viele Inhaftierte in den Gefängnissen Opfer von Gewalt durch Mithäftlinge und Wärter*innen. Wer nicht schon traumatisiert ins Gefängnis kommt, wird sehr wahrscheinlich dort traumatische Erlebnisse machen. Das repressive Umfeld, die hierarchische Struktur und die Lebensbedingungen fördern Depressionen, Suchterkrankungen, Machtspiele und den Einsatz von Gewalt an den und durch die Gefangenen. So sind z.B. die Preise für Drogen nirgendwo höher als im Knast.

Absurderweise bilden sich in grossen Gefängnissen eine Art „rechtsfreie“ Räume, in denen Gewalt, Vergewaltigungen, Drogenhandel etc. an der Tagesordnung sind. In den Gefängnissen werden also Umfelder geschaffen, die es erst ermöglichen, problematische Strategien zur Konfliktbewältigung wie Gewalt zu entwickeln, auszuleben und weiterzugeben. Das Gefängnis ist ein Ort, wo sich delinquente Praxen und Strategien weiterverbreiten und befördern können. Im Gefängnis existiert eine Schattenwelt, die kaum eine*r kennt und die auch nicht interessiert, schliesslich geschieht sie hinter hohen Mauern.

Viele junge Leute, die wegen „kleiner“ Delikte in Haft geraten, kommen dort erst in Kontakt mit einem Milieu, in dem Delinquenz angesehen und verbreitet ist. Das Gefängnis fördert in gewissen Fällen die Kriminalität, die es zu bekämpfen verspricht und richtet dabei jede Menge Schaden an.

2. Grund: Die Gesellschaft produziert „Überflüssige“

Die Gefängnisse sind gefüllt mit Menschen, die aufgrund von sozialen Ungleichheiten und Armut in Konflikt mit dem Gesetz gekommen sind. Die meisten Verurteilungen haben direkt oder indirekt mit Eigentumsfragen zu tun. Viele Inhaftierte sind Benutzer*innen von illegalisierten Drogen. Das Herrschaftsinstrument Gefängnis ist dabei nicht nur unterdrückend, sondern ebenso produktiv: Menschen werden dazu angehalten, sich produktiv und konform zu verhalten. Es sind eben jene Instrumente, die uns und unsere Gesellschaft erst konstituieren.

Viele Gesetze sind Teil des Krieges gegen die Armen. Geschaffen wurden sie, um die bestehende Ordnung und die bestehenden (Eigentums-)verhältnisse festzusetzen und zu verteidigen. Das Justizsystem ist lange nicht so neutral und objektiv, wie es scheint. Was wie verfolgt und bestraft werden soll ist eine politische Entscheidung, die bisweilen absurde Auswüchse mit sich bringt (z.B. Gefängnis für Schwarzfahren). Gesetze schaffen eine Klasse von Delinquent*innen und einen ganzen Apparat von Polizist*innen, Richter*innen, Überwachung und Kontrolle, und legitimieren diesen. Das Gefängnis hilft ebenso wie die Schule, die Kaserne, die Psychiatrie, das Krankenhaus etc., die Position des Individuums in der Gesellschaft anzuzeigen und es darin festzusetzen.

In der Theorie bleibt eines der Ziele dieser Einschliessung die Resozialisierung. Das Individuum soll in der Gesellschaft wieder eine andere, konforme Position einnehmen. Zumindest war dies das Ziel vieler Reformen in den letzten Jahrzehnten. Dieses Ziel scheint mittlerweile aufgegeben zu sein.
Solange die Gesellschaft ist wie sie ist, voller sozialer Unterschiede, Sexismus und Rassismus, solange wird es auch viele Menschen geben, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Solange wird die Gesellschaft „Überflüssige“ produzieren.

3. Grund: Es soll uns abschrecken

Die blosse Präsenz von Gefängnissen und Gefangenen in unserem Bewusstsein soll zur Abschreckung dienen. Eine möglichst grosse Konformität und Gesetzestreue wird dadurch angestrebt, dass du deiner Bewegungsfreiheit beraubt werden könntest, wenn du gegen Gesetze verstösst. Auch im Alltag und im Unterbewusstsein soll diese Angst ständig vorhanden sein: Die Polizei im eigenen Kopf. Diese hilft schon dabei, die kleinsten Regelüberschreitungen zu unterbinden. Etwas, was viele als charakteristisch an befriedeten Ländern wie der Schweiz erachten.

4. Grund: Wir lieben die Freiheit

Die krasseste Freiheitsberaubung überhaupt: Das Gefängnis ist eine besonders starke Form eines Ein- und Ausschlussmechanismus. Widerstand und Kritik an der bestehenden Ordnung kann sehr schnell ins Gefängnis führen.

5. Grund: Wofür Strafen?

Ist die Idee der Bestrafung – eine sehr moralische Idee – eine angemesse Reaktion auf Vergehen wie Diebstähle, Gewalt oder Übergriffe? Strafen bedeutet immer, jemandem mit Absicht Leid zuzufügen. Was soll mit diesem Leid bezweckt werden? Der Gedanke des Strafens basiert auf einer Idee von Vergeltung und Rache. Delinquent*innen werden stigmatisiert und damit Resozialisierung – was ein Zweck des Gefängnisses sein soll – erschwert.
Die lauter werdenden Forderungen nach noch härteren Strafen sind eine zutiefst reaktionäre Idee, basierend auf einer moralischen Vorstellung von Vergeltung gegenüber jenen Menschen, von denen angenommen wird, sie hielten sich nicht an die herrschende Ordnung.

6. Grund: Sexismus und Rassismus

In den Gefängnissen sitzen mehrheitlich Männer. Das Gefängnis trägt auch dazu bei, Geschlechtlichkeit zu (re)produzieren. Während dem Mann eher der Täter vorgeworfen wird, gilt die Frau eher als die Wahnsinnige und landet deswegen in psychiatrischer Betreuung. Sexualisierte und rassistische Gewalt sind leider in beiden Institutionen an der Tagesordnung. Hier ist der Staat nicht in der Lage, sein Sicherheitsversprechen einzuhalten, im Gegenteil: Techniken und Institutionen wie die Polizei, das Gefängnis oder Grenzen etc. produzieren Gewalt gegen Frauen* und People of Colour, statt sie zu beenden.

Der Schutz von marginalisierten Communities wird als Vorwand gebraucht, um Polizei und Justiz weiterhin Gewalt ausüben zu lassen. Schauen wir uns als Beispiel die Diskussion nach den Vorfällen in der Silvesternacht 15/16 in Köln an: Die Gewalt gegen Frauen, ein weit verbreitetes und häufig verstecktes Phänomen, wird benutzt, um Gewalt gegen People of Colour, sowohl im Land als auch an den sogenannten „EU-Aussengrenzen“ zu legitimieren. Erfährt jedoch eine illegalisierte Person sexualisierte Gewalt, hat sie unter Umständen nicht die Möglichkeit, sich an die Polizei zu wenden. Sie läuft dann Gefahr, von dieser wiederum Gewalt zu erfahren: Sie kann inhaftiert und ausgeschafft werden.

Community-basierte Ansätze

Wie sich also sicher fühlen, wenn es keine Gefängnisse gäbe und einem auch die Polizei nicht helfen kann?
Aus queer-feministischen Kreisen kommen einige Ansätze, welche mit gemischtem Fazit bereits viele Male angewandt wurden. Die Idee ist, dass das Umfeld des „Täters“/der „Täterin“ und jenes des „Opfers“ versuchen, einen Umgang mit den Erfahrungen und mit der „Tat“ zu finden und daraus Konsequenzen zu ziehen. Viele von uns haben das sicher auch bereits angewandt, bei kleinen Vergehen, Übergriffen und Problemen im sozialen Umfeld. Folgende Grundsätze sind dabei von Menschen, welche sich viel damit beschäftigt haben, herausgearbeitet worden2:

  • Kollektive Unterstützung, Sicherheit und Selbstbestimmung für die betroffenen Personen
  • Verantwortung und Verhaltensänderung der gewaltausübenden Person
  • Entwicklung der Community hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind
  • Strukturelle, politische Veränderung der Bedingungen, die Gewalt ermöglichen

Daraus folgt, dass der gewaltausübenden Person die Möglichkeit zur Verhaltensänderung angeboten wird, statt sie zu bestrafen und auszustossen. Es geht mehr darum, die von Gewalt Betroffenen zu ermächtigen, statt sie bloss zu beschützen. Die eigene Selbstbestimmung soll zurückerobert werden, und nicht bloss als „machtlose“ Person Schutz von Aussen zu erhalten. Diesen Strategien liegt die Annahme zugrunde, dass Betroffene von Gewalttaten über ein grosses Wissen und über Fähigkeiten verfügen, die sie zu potenziellen Akteur*innen sowohl der eigenen als auch der gesellschaftlichen Veränderung machen.

Dies ist ein ganz anderer Ansatz als Gefängnisse, die uns Sicherheit durch Verwahrung verkaufen wollen. Die Gefängnislogik versucht, ein paar „faule Äpfel“ zu isolieren. Doch häufig gibt es gute Erklärungen4, wenn auch keine Entschuldigung für Gewalt.
All diese Ansätze sind nur möglich, wenn die Menschen genug stabile soziale Umfelder haben und sich in der Lage sehen, in einer solchen Situation entsprechend einzuschreiten. Damit dies für alle Menschen möglich ist, müssen wir wohl in einer anderen Welt leben. Die Gründe für einen Kampf gegen Gefängnisse haben nicht nur mit der Strafjustiz und dem Staat zu tun, sondern sind genauso eine Frage nach einer emanzipatorischen und gerechteren Welt.

Eine Person, welche in den letzten Jahren durch die Auseinandersetzung mit Ausschaffungen und dem Ausschaffungsgefängnis Bässlergut begonnen hat, eine grundsätzliche Kritik an der Institution zu entwickeln. Die Person kann nicht verstehen, weswegen Widerstand gegen den Gefängnisausbau nie zu einer Diskussion über Sinn, Unsinn und Notwendigkeit dieser Einsperranstalt führt. Der Text basiert auf einem Input, der im Herbst 2017 am „Bässlergut-Wochenende“ bei der bblackboxx gehalten wurde.

1 entknastung.org
2 transformativejustice.eu/de/
3 Die Untersuchungshaft ist eine Zwangsmassnahme, die dazu dient, die Anwesenheit einer dringend verdächtigen Person im Verfahren sicher zu stellen, die Person von der Begehung von (weiteren) Delikten abzuhalten, Absprachen mit anderen Personen zu vermeiden oder Einwirkungen auf Beweismittel zu verhindern.
4 Aufgrund von Sozialisierung, ökonomischem und kulturellem Hintergrund, Klassenzugehörigkeit, Suchterkrankungen etc. lassen sich gewalttätige Übergriffe durchaus erklären.

«Ich erwarte nichts Grossartiges mehr vom Leben»

Fahim sitzt vor uns und nickt uns freundlich zu. Das soll vielleicht bedeuten, dass wir mit dem Interview beginnen können. Der junge Mann scheint sich nicht allzu stark dafür zu interessieren, was wir in unserem Leben machen, wie wir unser Geld verdienen oder ob wir einer Organisation angehören. Fahim befindet sich seit einigen Monaten im Ausschaffungsgefängnis Bässlergut, wie er uns erzählt. Davor verbrachte er mehrere Jahre in unterschiedlichen Strafanstalten – zuerst in einem Massnahmenvollzug für junge Erwachsene, dann in der Untersuchungs-, Straf- und zuletzt in der Ausschaffungshaft. Er sei schon viel zu lange im Gefängnis und habe seine Strafe längst abgesessen.

Auf die Frage, wie sich die Alltagsgestaltung in der Strafhaft zu der in der Ausschaffungshaft unterscheidet, nennt er als ersten Punkt die Arbeitsmöglichkeit. In der Strafhaft war Fahim gemeinsam mit acht weiteren Insassen sowohl für das Mittags- als auch Abendessen zuständig. Gekocht wurde für 140 Personen.

Das war eine anstrengende Arbeit, bei der ich abends merkte, wie hart ich gearbeitet hatte.

Für 6.5 Stunden Arbeit pro Tag bekam Fahim 22 Schweizer Franken. Fahim gelang es so, Geld anzusparen, was der Grund ist, weshalb er nun im Bässlergut nicht zur Arbeit geht.

Bedingungen im Knast

Im Bässlergut verstehe man sich untereinander grundsätzlich gut, auch wenn es schwierig sei, sich mit den anderen zu unterhalten, da die meisten Englisch, Französisch oder Arabisch sprechen und kein Deutsch können. Seine Zeit schlägt er mit schlafen tot. Mit den anderen Gefangenen sowie den Wärtern habe er nicht viel zu tun. Letztere sehe er nur, wenn er Medikamente (gegen Magenaufstossen), einen Rasierapparat oder Essen bekommt. Ansonsten sei er viel für sich alleine. Bis vor kurzem teilte Fahim die Zelle mit einem anderen Insassen. Seit dieser ausgeschafft wurde, ist Fahim alleine in seiner Zelle.

Das macht mir nichts. Im Gegenteil. Ich bin sogar lieber alleine. Wie die Stimmung im Gefängnis ist oder wie es den anderen geht, interessiert mich nicht. Ich habe es langsam gesehen.

In Fahims Station werden momentan zehn Personen gefangen gehalten – alle mit dem Ziel, baldmöglichst ausgeschafft zu werden. In der Station gibt es sowohl Einzel-, als auch Zweier-, Vierer- und Achterzellen sowie einen Gemeinschaftsraum, welcher mit einem Töggelikasten, Teekocher, Tisch, sowie drei Stühlen, ausgestattet ist.

Gerade gestern wurde im Gemeinschaftsraum eine Kamera installiert. Wahrscheinlich deshalb, weil einige Insassen beim Töggelen eine Zigarette rauchten,

berichtet uns Fahim. Im Gegensatz zur Strafhaft sei das Essen hier miserabel, so Fahim. Manchmal gebe es abends nur Suppe und ein Stück Brot. Gegessen werde in der Zelle, jeder für sich.

Drohende Ausschaffung

Dass er ausgeschafft werden soll, bekam Fahim zum ersten Mal in einem Brief mitgeteilt. Darin waren seine begangenen Straftaten aufgelistet und die Begründung der Ausschaffung notiert. Zwar schob Fahim den Brief vorerst beiseite. Vergessen hat er ihn jedoch nie, wie er uns erzählt. Im Grunde glaubte er stets daran, nach dem Absitzen der Strafhaft in die Freiheit zu kommen. Den Brief erhielt er in einer Zeit, in der er sich auf der Flucht befand. Denn vom offenen Massnahmenvollzug ist Fahim abgehauen und untergetaucht – bis er sich wenige Monate später selber stellte. Doch statt der Weiterführung des Massnahmenvollzugs wurde Fahims Verhalten mit der Einweisung ins Untersuchungsgefängnis sanktioniert, wo er ein Jahr verbrachte.

Im Untersuchungsgefängnis bist du 23 Stunden im Zimmer. Eine Stunde darfst du raus. Erst als ich mich im Rahmen eines Briefes an die zuständigen Behörden wandte, konnte ich das Untersuchungsgefängnis verlassen.

Wie es dazukam, dass er so lange im Untersuchungsgefängnis sein musste, kann er sich nicht erklären.

Nach der Untersuchungshaft folgte die Strafhaft, in der sich Fahim insgesamt zwei Jahre und neun Monate befand.

Die Behörden dort sind die schlimmsten, was die Beantragung von frühzeitiger Entlassung aufgrund guter Führung sowie Urlaubsbewilligungen angeht. Ich bekam weder Urlaub zugesprochen, noch wurde ich wegen guter Führung früher entlassen. Das war jedoch nicht nur bei mir so, sondern bei den meisten anderen auch

schildert Fahim. Zwei Wochen vor Haftentlassung teilte man ihm mit, dass er zur Vorbereitung seiner Ausschaffung in die Ausschaffungshaft kommen würde. Seitdem kämpft Fahim für seine Freilassung. Ein Haftentlassungsgesuch, welches beim Appellationsgericht eingereicht wurde, wurde abgelehnt. Zwar besitzt Fahim – wie er uns erzählt – noch Hoffnung, jedoch werde diese von Tag zu Tag kleiner. Auf die Frage, was er machen würde, wenn er tatsächlich ausgeschafft wird, meint Fahim, dass er maximal drei Monate in Sri Lanka verbringen werde.

Danach werde ich nach Europa zurückkehren. Entweder nach Deutschland oder Österreich, wo ich mindestens fünf Jahre sein muss, bevor ich von dort in die Schweiz einreisen kann.

Kontakte in Österreich hat er schon, wie er berichtet. Er kennt dort einen Boxclub, der ihn gerne aufnehmen würde und ihm auch bei einer Stellensuche behilflich sein könte. Fahim sandte dem Boxclub Videos zu, die ihn beim Boxen zeigen.

Knast & Ausschaffung aus Fahims Blickwinkel

Für Fahim bedeutet ein B-Ausweis dasselbe wie ein F-Ausweis oder ein C-Ausweis. Sein jüngerer Bruder sowie sein Vater besitzen die C-Bewilligung, seine Mutter die B-Bewilligung. Weshalb die Mutter trotz Erwerbstätigkeit und langer Aufenthaltsdauer in der Schweiz keine C-Bewilligung kriegt, weiss er nicht. Sein älterer Bruder ist ebenfalls in Haft, auch ihm droht eine Ausschaffung. Vor fünf Jahren wurde ein Freund von ihm in die Elfenbeinküste ausgeschafft. «Dem geht es dort schlecht, da alle seine Angehörigen in der Schweiz sind», meint Fahim. Fahim ist der Meinung, dass eine Strafhaft unter Umständen Sinn macht. Gerade wenn es darum gehe, bei jemandem eine Einsicht herbeizuführen, könne eine Gefängnisstrafe angebracht sein. Als wir Fahim fragen, ob er sich selbst eine Gefängnisstrafe ausgesprochen hätte, antwortete er:

Ich habe viele Straftaten begangen. Viele, die selbst die Polizei nicht weiss. Für all diese Straftaten sind 4.5 Jahre gerechtfertigt. Eine solche Gefängnisdauer habe ich irgendwie verdient.

Dass jemand nach der Haft ausgeschafft werden soll, verstehe er hingegen nicht. Er kann nicht begreifen, wie man alles – selbst die Familie und die Freunde einer Person – wegnehmen kann. Zudem ist es für ihn absurd, für die Integration einer Person viel Geld zu investieren – nur um sie anschliessend auszuschaffen. Fahim betont, dass er sich in all den Jahren stark verändert und viel gelernt habe. Doch dies interessiere die Behörden nicht. Obwohl er keinen Bezug zu Sri Lanka habe, soll er dorthin abgeschoben werden. Nach 17 Jahren Leben in der Schweiz.

Ich habe meine Schuld bezahlt, die Haft abgesessen. Nun warte ich auf ein Wunder.

 

Politik und Perspektiven

Fahim hat sich – bevor er ins Gefängnis kam – nicht gross mit Knästen und Ausschaffungen auseinandergesetzt.

Solange du nicht in dieser Situation bist, erscheint dir das Ganze weit weg.

Fahim weiss nicht, ob er zukünftig gegen Repressionsmassnahmen eines Staates wie Knast oder Ausschaffung kämpfen möchte. Er geht davon aus, dass die Leute dann mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn als Kriminellen bezeichnen würden. An eine Demo zu gehen, braucht für ihn viel Mut, da oftmals eine Konfrontation mit der Polizei stattfindet. Auch seine Freunde sind politisch nicht aktiv.

Wenn ich freigelassen werde, möchte ich nichts Anderes tun als Arbeiten, Boxen und die Zeit mit meiner Familie verbringen. Ich erwarte nichts Grossartiges mehr vom Leben.

Die Autorinnen dieses Artikels führten ein Gespräch mit Fahim und erstellten auf Grundlage des Gesagten den vorliegenden Text. Bezüglich des Textes war es Fahim ein Anliegen, von allem Gesagten das Wichtigste zusammenzufassen. Einen Schwerpunkt wollte er nicht setzen. Für das Gespräch dachten sich die Autorinnen Fragen zu unterschiedlichen Themenkomplexen aus. Vor dem Interview wurde Fahim die Möglichkeit angeboten, frei zu berichten. Fahim bevorzugte die Beantwortung der bereits ausgedachten Fragen. Die Autorinnen des vorliegenden Artikels setzen sich seit geraumer Zeit mit dem Bässlergut auseinander. Dabei geht es ihnen um die grundsätzliche Kritik des Gefängnisses. Die Kritik beruht auf der Ablehnung von Herrschaft der Einen über die Anderen.

WEek END BÄSSLERGUT

Seit Anfang dieses Jahres wird das Ausschaffungsgefängnis Bässlergut am Zoll Otterbach in Basel um ein zweites Gebäude erweitert. Mit einem Diskussionswochenende vom 6.-8. Oktober 2017 rund um die Bblackboxx und unmittelbar neben der Baustelle wollten wir unsere Kritik an diesem Unternehmen mit möglichst vielen Menschen teilen. Und uns über die Verhältnisse, unsere Utopien und eine widerständige Praxis austauschen. Gleichzeitig wollten wir unsere Anwesenheit Teil des Widerstands gegen Knäste, Grenzen und Repression werden lassen. Der Anlass wurde von Einzelpersonen organisiert, die sich bereits in diesem Themenfeld engagiert und darüber auch zusammengefunden haben.

Vielfältige Kritik an den Verhältnissen, die sich im Bässlergut zeigen

Das Programm wurde am Freitagabend mit einem gut besuchten NoLager-Rundgang um das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ), den bereits bestehenden Trakt des Auschaffungsgefängnisses Bässlergut I und der aktuellen Baustelle Bässlergut II eröffnet. Das im Gespräch mit Inhaftierten über die Jahre gesammelte Wissen zur alltäglichen Praxis hinter diesen Mauern wurde geteilt. In einem anschliessenden Input wurden die Entwicklungen und Zusammenhänge der Asyl- und Strafpolitik aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass der Neubau Ausdruck einer Entwicklung ist, nach welcher in Zukunft mehr Migrant*innen und mehr mittellose Menschen eingesperrt werden – was nicht selten die selben sein werden, einfach abwechselnd in Ausschaffungshaft im alten und in Strafhaft im neuen Gebäude.

Mit einer allgemeinen Kritik an der Institution Gefängnis quer durch die letzten zweihundert Jahre wurde der Samstag eröffnet. In Kleingruppen wurde über das subjektive Sicherheitsempfinden gesprochen. Häufig wurde hier das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit in Freundeskreisen oder in politischen Zusammenhängen genannt. Dabei spielten die strukturellen Sicherheiten, wie ein Schweizer Pass und die damit verbundenen Privilegien, eine eher untergeordnete Rolle. Kann man Angst vor Hunger haben, wenn man noch nie gehungert hat? Ein Diskussionsteilnehmer hat seine Privilegien auch als Abhängigkeiten beschrieben, da sie entzogen werden können, wenn man nicht mitspielt (Bewegungsfreiheit, diverse Sozialleistungen usw.).Vermittelt durch eine Gruppe von regelmässigen Gefängnisbesucher*innen und inhaftierten Menschen wurde am Samstagnachmittag den Insassen von Bässlergut I ein solidarischer Besuch abgestattet. Für viele Besucher*innen war das eine neue und wichtige Erfahrung. Und auch die Gefangenen haben sich über diese direkte Solidarität gefreut. Ein regelmässiger Besucher bestätigte, dass er noch nie zuvor so viele Menschen im Besucherraum des Gefängnisses erlebt habe. Aus diesem kollektiven Besuch sind nun monatliche, offene Besuchstreffen entstanden (siehe Agenda, S. 70).

Parallel zum Gefängnisbesuch wurde ein Einblick in die historische Entwicklung der Idee und Praxis von Verwahrung gegeben. Tatsächlich existiert in der Schweiz unter diesem Begriff eine langjährige oder sogar lebenslange Haft, die von Psychiater*innen durch den Einbezug von Computerprogrammen zur Diagnose verhängt wurde. Eine anschliessende Diskussion in einer kleineren Gruppe widmete sich der Frage, wie ein solidarischer Umgang mit psychisch erkrankten Menschen gestaltet werden könnte. Im Vordergrund stand dabei die Kritik an der entmenschlichten und normierenden Funktion von psychiatrischen Kliniken, sowie das eigene Unwissen und Unbehagen im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen im eigenen Umfeld. Um solidarisch mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung umgehen zu können, braucht es einerseits spezialisiertes Wissen und anderseits aber auch sensibilisierte soziale Verhältnisse, dies ein Schluss aus der Diskussion.

Am späteren Nachmittag wurde eine kurze Geschichte der Privatisierung des Gefängniswesens in den USA erzählt. Eine Vielzahl von internationalen (auch europäischen) Firmen konkurriert um den Markt mit den Häftlingen, betreibt Lobbyarbeit für eine restriktivere Gesetzgebung und beutet die Insassen als Arbeitskräfte aus. Das Gefängniswesen wurde als wirtschaftliche Branche erkennbar.

Der Tag wurde mit einer Filmvorführung vom Kino Vagabund beschlossen: Ausschnitte aus „Vol spécial“ von Fernand Melgar und der Kurzfilm „Einspruch VI“ von Rolando Colla. Eine kontroverse Diskussion drehte sich um die Frage, ob Betroffenheit und Identifikation mit den Opfern des Ausschaffungsregimes die (richtige) Voraussetzung für einen politischen Kampf ist, bzw. wie und ob es den beiden Filmen überhaupt gelingt, strukturelle Zusammenhänge aufzuzeigen und eine klare Haltung dazu einzunehmen. Nicht zuletzt wurde auch die Frage aufgeworfen, was es nützt, zu schauen, wenn man doch handeln müsste.

Am Sonntagmorgen hat uns ein Mensch ohne Papiere seinen Weg durch die schweizer Lager, Gefängnisse und Psychiatrien hin zu einem politischen Umfeld und zum eigenen Kampf aufgezeigt. Schwerpunkt seines Inputs war der Widerstand. Er schilderte, wie ihm der aktive Widerstand gegen das bestehende System, eine damit verbundene Praxis und der Austausch mit Gleichgesinnten eine längerfristige Perspektive in der Schweiz gegeben haben.

Am frühen Nachmittag wurden in einem Workshop die Fragen nach Privilegien, Schuldgefühlen und Solidarität verhandelt. In Kleingruppen wurden die Begriffe definiert und diskutiert. Ein Mensch ohne Papiere mit mehrmonatiger Knasterfahrung meinte, dass Gefängnisbesuche für ihn eine wichtige und starke Geste der Solidarität seien. Gleichzeitig kritisierte er die Gleichsetzung des Begriffes Solidarität mit Wohltätigkeit und karitativer Arbeit, was er in der Schweiz oft erlebt habe. In einigen Kleingruppen wurde auch diskutiert, ob Privilegierte die eigenen Privilegien in einem solidarischen Kampf nutzen sollen, auch auf die Gefahr hin, die Strukturen zu reproduzieren, die diese Privilegien hervorbringen. Oder ob diese Privilegien produzierenden Strukturen als Ganzes abgelehnt werden sollten, auch wenn dann einige Unterstützungsmöglichkeiten wegfallen.

Gedankenanstösse zum Widerstand

Unsere kritische Präsenz neben dem neuen Strafgefängnis Bässlergut II, dem Ausschaffungsgefängnis Bässlergut I sowie dem EVZ stellte eine erste Form des Widerstandes dar. Es gab viele angeregte Diskussionen, in welchen Inhalte vermittelt und kritisch beleuchtet wurden. Die thematisch reichhaltigen Vorträge und das breite Spektrum der Kritik zeigten viele zu bekämpfende Strukturen und Praktiken auf. Schwierig blieb jedoch, wie dieses Wissen und der Austausch in eine widerständige Praxis übersetzt werden können. So hat das Wochenende zwar aufgerüttelt, doch leider kaum neue Handlungsperspektiven eröffnet, sondern teilweise eher ein Gefühl von Ohnmacht bei einigen Teilnehmer*innen hinterlassen. Die Frage, wie und wo sich geteiltes Wissen wieder in eine Praxis überführen lässt, könnte bei einem nächsten Anlass vielleicht schon in der Planung stärker einbezogen werden.
Mehrere direkt Betroffene haben betont, dass ein glaubwürdiger und wirksamer Widerstand eine höhere Bereitschaft zu Handlungen erfordert, welche auch das eigene Leben in Frage stellt und Risiken, wie Geld- oder Haftstrafen oder den Verlust von Privilegien, mit sich bringt. Vielleicht sollten tatsächlich auch diejenigen, die nicht sowieso schon mit einem Risiko leben, den Widerstand ernster verfolgen und auch die damit einhergehenden Risiken nicht scheuen.

Während wir bei der Mobilisierung zum Anlass noch mit oberflächlichen Fragen zur Abschiebepolitik konfrontiert wurden, bewegten sich die Diskussionen während dem Wochenende fast ausschliesslich im Rahmen antikapitalistischer Grundannahmen. Der dominante gesellschaftliche Diskurs für Ausschaffungspolitik à la „es ist eine menschliche Tragödie, aber es können halt nicht alle hierher kommen“ war an diesem Wochenende kein Thema.

Nicht zuletzt wurde auch die Frage aufgeworfen, was es nützt, zu schauen, wenn man doch handeln müsste.

Einerseits ist das eine angenehme Ausgangslage für weiterführende Diskussionen, anderseits gerät dabei auch schnell in Vergessenheit, wie stark jedes Alternativmodell zum aktuellen Migrationsregime auf einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel angewiesen ist und auch nur auf diesem Hintergrund verstanden werden kann. Soll die Migrationspolitik sich ändern, muss sich das politische und wirtschaftliche System ändern und damit auch ein Wandel in der Gesellschaft geschehen.

Gemeinsames und Ausgeschlossene

Allgemein war der Anlass mit gut zweihundert Teilnehmer*innen über das Wochenende trotz eher kaltem und regnerischem Wetter sehr gut besucht. Die Menschen aus dem EVZ waren zwar präsent, haben aber nur wenig an den eigentlichen Veranstaltungen teilgenommen, auch wenn sie vor den Veranstaltungen über die Themen und die Übersetzungsmöglichkeiten informiert wurden. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die Form des Vortrags mit Diskussion den idealen Raum für einen solchen Austausch bilden kann. Dank der hervorragenden und durchgehenden KüfA wurde in den kurzen Pausen jedoch gemeinsam gegessen und in Einzelgesprächen oder kleinen Gruppen viel diskutiert.
Die Polizei ist trotz kritischem Thema und Ort nur zweimal offen in Erscheinung getreten. Die Repression hat sich leider dennoch auf das Wochenende ausgewirkt. Einige Interessierte waren auf der anderen Seite der Gefängnismauer und nicht wenige haben sich aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung nicht an die Veranstaltungen gewagt.

Ausblick

Am 30. Oktober hat bereits ein Folgetreffen stattgefunden, an dem mehr über Perspektiven und Möglichkeiten von Widerstand diskutiert wurde. Deutlich wurde beim Treffen das Bedürfnis nach langfristiger, offener und transparenter Organisation sowie einer klareren Einmischung in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs und die Verhältnisse geäussert. Regelmässige, offene Austauschtreffen sind weiterhin geplant. Und auch viele Auseinandersetzungen und Praktiken (wie die aus dem Wochenende hervorgegangenen kollektiven Gefängnisbesuche) gehen offen weiter.
Der Bau des Bässlerguts dauert noch bis 2019. Es ist zu befürchten, dass die darin materialisierten Verhältnisse auch über dieses Datum hinaus bestehen. Denn eine Infrastruktur, die gebaut wird, muss im Anschluss auch genutzt werden. Der gemeinsame Widerstand in Diskussion und Handlung bleibt eine Notwendigkeit!

Der Versuch einer Schliessung der zentralen Mittelmeerroute

Im November 2017 trafen sich Minister*innen aus 13 Staaten und Vertreter*innen verschiedener zwischenstaatlicher Organisationen zum dritten Treffen der Kontaktgruppe zentrales Mittelmeer in Bern. Sommaruga erklärte in allen Medien, wie dieses Gremium 14’000 Flüchtlinge vor dem Ertrinken gerettet habe und sich um die Verbesserung der Lage von gefangenen Migrant*innen in libyen einsetze. Das klingt toll, aber was steckt dahinter?

Dahinter steckt, dass die libysche Küstenwache, finanziell von den Teilnehmerländern unterstützt, 14’000 Menschen kurz nach dem Ablegen von den Booten geholt hat und sie in libysche Internierungslager einsperrte.1 Die Kontaktgruppe verfolgt nämlich hauptsächlich eine Politik, die die Migrationsthematik möglichst weit weg von europa wegschieben möchte. Dem entsprechen die drei wichtigsten Prioritäten, die die Kontaktgruppe formuliert:

1. Die Stärkung der libyschen Küstenwache.
2. Der Ausbau der Schutzkapazitäten für Migrant*innen in libyen.
3. Die Kontrolle der libyschen Südgrenze.2

Es ist dieselbe Politik, die vor einem Jahr in der Schliessung der Balkanroute durch einen zweifelhaften Deal mit der türkei mündete. Diesen Sommer wurde sie, unter weitaus weniger Beachtung der Öffentlichkeit als damals, mit der teilweisen Schliessung der zentralen Mittelmeerroute fortgesetzt. Dies gelang vor allem dank den Bemühen des italienischen Ministerpräsidenten Minniti, der zahlreiche offizielle wie auch korrupte Deals mit verschiedenen Warlords, Milizen, der Küstenwache und Bürgermeistern in libyen aushandelte. Mit den Deals konnten die verschiedenen libyschen Akteur*innen offenbar überzeugt werden, die Abfahrt der Flüchtlingsboote zu verhindern.

…dass der Wohlstand europas auf den Säulen Gewalt, Ausbeutung und Krieg steht.

Die Seehoheitszone libyens wurde auf 100 Kilometer vor der Küste des Landes ausgeweitet, zuvor lag sie bei 12 Kilometern. Das bedeutet, dass innerhalb dieses Streifens nur noch Boote der libyschen Küstenwache patroullieren und Seenotrettungen durchführen dürfen. Ein Rettungsboot, das sich in die 100 Kilometer Zone begab, wurde von der libyschen Küstenwache mit scharfer Munition beschossen. Die finanzielle Unterstützung eben dieser Küstenwache und der libyschen Einheitsregierung, die die Internierungslager betreibt, ist für die eu laut Sigmar Gabriel angeblich alternativlos.3
Gleichzeitig zwang die eu die verschiedenen Hilfsorganisationen, die auf dem Mittelmeer aktiv sind, einen Kodex zu unterschreiben. Dieser Kodex beinhaltet die Pflicht zur Mitnahme bewaffneter Polizist*innen auf den Rettungsbooten so wie das Verbot der Übergabe geretter Personen an grössere Schiffe. Letzteres hätte zur Folge, dass kleine Schiffe nach einer Rettung immer direkt nach italien fahren müssten und somit für mehrere Tage keine weitere Rettungen durchführen könnten. Es ist erfreulich, dass einige Organisationen sich dieser Politik widersetzten und den Kodex nicht unterschrieben. Ärzte ohne Grenzen schreibt, dass “der Verhaltenskodex die Perspektive zu verankern scheint, dass Staaten die Lebensrettung auf Nichtregierungsorganisationen auslagern können, um die eigenen Bemühungen auf Marine- und Militäroperationen konzentrieren zu können.”4
Den Organisationen, die den Kodex nicht unterschrieben, wurde gedroht, dass ihnen das Anlaufen italienischer Häfen verboten werde. Ausserdem wurden in mehreren Fällen verdeckte Ermittler*innen und Wanzen auf die Schiffe geschafft und ein Schiff der Organisation Jugend rettet wurde von der italienischen Polizei beschlagnahmt. Eine mediale Kampagne propagierte die zynische Behauptung, die NGO’s würden mit ihren Rettungen einen Pull-Faktor darstellen und seien deshalb die wahren Verantwortlichen für die vielen Toten. Zweifelsohne ein Versuch, die wertvolle Arbeit der Hilfsorganisationen zu diffamieren.

Die von der Kontaktgruppe Zentrales Mittelmeer gewählte Strategie zeigte Wirkung. Seit Juli sind die versuchten Überfahrten von libyen nach italien auf einem Dauertief und die Internierungslager in libyen füllen sich.5 Menschen werden in libyen in die Sklaverei und in Gefangenenlager gedrängt und Vergewaltigungen und Misshandlungen ausgesetzt.6 Ein Zitat von Sommaruga verdeutlicht den doppelten Profit dieser Strategie für die europäischen Staaten. Einerseits konnte der gewaltvolle Umgang mit migrierenden Menschen ein weiteres Stück vom befriedeten europa entfernt werden, andererseits können sie ihr humanistisches Mäntelchen zur Geltung bringen:

Wir müssen die Schwächsten rasch aus den libyschen Haftzentren rausholen können. Die Situation dort ist absolut katastrophal. Darunter leiden auch alle anderen Migranten, etwa die vielen Arbeitsmigranten, die in libyen gestrandet sind und nun dort festsitzen. Sie müssen wir unterstützen, damit sie freiwillig in ihre Heimatstaaten zurückkehren. Denn in europa erhalten sie kaum Asyl, riskieren mit einer Fahrt über das Mittelmeer aber ihr Leben.7

Dass trotz den verstärkten Abwehrmechanisem weiterhin Migrant*innen ankommen, verdeutlicht allzu sehr, dass der Wohlstand europas auf den Säulen Gewalt, Ausbeutung und Krieg steht. Es ist ein Bild das nicht ins europäische Selbstverständnis passt. Der Schwerpunkt der Strategie liegt meiner Meinung nach darin, europa vor den Folgen der Kriege und der Not, für die es selbst verantwortlich ist, abzuschirmen. Dass europa dabei kein bisschen davor zurückschreckt, militärische Mittel zu ergreifen, scheint eine logische Konsequenz zu sein.
europa führt einen Krieg gegen die Migrant*innen, der sich auf verschiedenen Ebenen abspielt. Ja, richtig gelesen, Krieg. Denn es ist ein Krieg. Ein Krieg an der Grenze, gegen Migrant*innen, ein Krieg, der der Ausbeutung und der Machterhaltung aber auch der Befriedung europas und dem Erhalt von Privilegien dient. Dies zeigt die Bewachung der Grenzen durch das Militär in libyen wie auch in europa. Dies zeigen die Lager, in die Menschen gesperrt werden, in libyen wie auch in europa. Und dies zeigen die durch das Grenzregime getöteten Menschen, in libyen wie auch in europa.

Der Schreibende hat zur Entstehung dieses Textes eine kleine Online-Recherche betrieben. Seiner Abscheu gegenüber den Nationalstaaten und ihrem Grenzregime verleiht er in diesem Text auch durch das Kleinschreiben von Ländernamen Ausdruck.