Ankommen in der Migration. Ein Manifest.

Zu Pässen, Grenzen und Nationalstaaten

Die Geburt eines Menschen ist automatisch gebunden an eine Nationalität. Und an einen Pass. Oder eben nicht. Durch den Pass werden einem Rechte zugesprochen oder eben verwehrt.
Die Zahl der letzteren nimmt zu, solange es Staaten gibt, die weder Schutz noch
ausreichende Lebenschancen bieten können.
Trotz der politischen Marginalisierung und fehlenden Repräsentation im nationalstaatlichen Gefüge nehmen all jene Menschen ohne Pass, ohne Rechte, ohne Aufenthaltsbewilligung, sowie diejenigen, die zwar über eine Aufenthaltsbewilligung, jedoch nicht über die volle Möglichkeit politischer und sozialer Teilhabe verfügen, eine immer gewichtigere Rolle in politischen, medialen, kulturellen und sozialen Diskursen ein. Die Bilder der Katastrophe, die in diesen Diskursen rund um Flucht- und Migrationsbewegungen vermittelt werden, erinnern an jene verheerender Naturkatastrophen. Mit solchen Assoziationen wird ein Imaginationsraum eröffnet der zu einer Belagerungsmentalität führt, was grenzschützerische Massnahmen fordert und sie politisch legitimiert.
Der Kollaps des Wohlfahrtssystems und die Bedrohung des Staates, welche durch den sogenannten Massenansturm angekündigt werden, rechtfertigen die Einschränkungen der freien Bewegung derjenigen, die auf sie angewiesen sind. Sicherheit und Ordnung innerhalb dieser Systeme sind die Kriterien, um Freizügigkeit und Anspruch auf Freiheit einzuschränken. Wir sind der Meinung, dass diese Kriterien nicht ausreichen für die gegenwärtige Handhabung und den
Umgang mit Menschen in Not.
Der Nationalstaat, in seiner Definition von einheitlichem Staatsvolk und Staatsgewalt und durch Grenzlinien markiertem Staatsgebiet und Staatshoheit, befindet sich in einer Krise. Innerhalb von Staaten hält sich kein homogenes Staatsvolk mehr auf. Überstaatliche Institutionen übernehmen Aufgaben der westlichen Nationalstaaten. Mechanismen des Marktes lösen
administrative Steuerungen ab und die
Globalisierung hebt Grenzen auf.
Diese Veränderungen nehmen Einfluss auf territoriale Grenzen. Man nehme als Beispiel Europa; innerhalb lösen sich Grenzen auf, wobei sich die Aussengrenzen der EU verfestigen. Grenzen verschieben sich, von Linien werden sie zu Netzen. Grenzsituationen entstehen immer häufiger auch innerhalb von Staaten (Ausweiskontrollen in Städten, Bezug von Diensten wie Sim-Karten, Internet, Krankenhaus, Wohnung, Bibliotheken nur unter Vorweisung eines gültigen Ausweises, etc.)
Das Konzept von linearen Grenzen, Nationalstaaten und die damit einhergehende Handhabung von Sicherheit und Kontrolle sind schlussendlich ein temporäres Konstrukt, eine historische Entwicklung. Die Strukturierung und Organisation von Zugehörigkeiten, Aus- und Einschluss hat sich zu dem Gefüge entwickelt, wie wir es jetzt kennen, was bedeutet, dass es nur eine Möglichkeit unter vielen ist. Das Konstrukt befindet sich im stetigen Wandel und kann sich in der ferneren Zukunft auch komplett verändern. Alles, was ist, ist nur eine Möglichkeit davon, wie es sein könnte.
Wir möchten einen Gedanken aussprechen. Einen Vorschlag wagen. Eine Möglichkeit erwägen.

Wie wäre es, wenn Rechte, Möglichkeiten und Wert eines Menschen nicht an dessen Pass gebunden wären?

Wenn die im herkömmlichen Sinne verstandene Staatsbürgerschaft oder Mitgliedschaft in einer fest umgrenzten kulturellen, sozialen und politischen Gemeinschaft ersetzt würde durch eine Bürgerschaft sprich eine Zugehörigkeit im Sinne einer Beziehung.
Beziehung zum Ort, zu den Menschen und Geschehnissen um einen herum.

Abschied

Hiermit verabschieden wir uns von der Gastfreundschaft. Ihre Absicht war es, Gutes zu tun. Sie wollte als oberstes Gesetz der Menschheit den Fremden Unterkunft, Nahrung und Schutz bieten. Bildung und Austausch wollte sie mit sich bringen, für Gast und für Gastgeber. Es war nicht ihre Absicht, etwas zurück zu verlangen. Sondern den Wanderbewegungen der Menschheit ein Hilfsmittel zu Austausch und Weiterentwicklung zu bieten. Doch die Regulierung dieser Absichten hat zu Aus- und Einschluss
geführt. Zu Gesetzen und Machtverhältnissen. Ist der Fremde nun Gast oder Feind? Muss er beherbergt, empfangen oder kontrolliert und überwacht werden? Wer sich als Gast nicht an die Gesetze der Gastfreundschaft hält, läuft Gefahr, als Feind eingestuft zu werden. Gastfreundschaft impliziert immer Regeln und Hierarchien, indem sie Gast- und Gastgeber-Rollen und -Verhaltensweisen vorgibt.
Teils mehr, teils weniger hinterfragt wird dieses Machtgefälle im staatlichen Umgang mit Migration. Der Staat bestimmt, wer bleiben darf, weist Menschen an der Grenze ab und schafft sie mit Gewalt in ihr Heimatland zurück. Dieses Machtgefälle bleibt auch im Integrationsprozess bestehen. Die Gastfreundschaft erzwingt eine Anpassung, denn der Gast hat sich den Sitten des Gastgebers unterzuordnen. Auch wer sich der Willkommenskultur verschreibt, bleibt in diesen
Hierarchien hängen und zementiert anhand von Unterschieden kulturelle Stereotypen, anstatt sie zur Verhandlung zu stellen. Sie gibt vor, das Ankommen an einem Ort setze voraus, willkommen geheissen werden zu müssen. Der Begriff sowie die damit einhergehende Praxis sind an ein eindeutiges Rollenverhältnis geknüpft. Ankommende, Neulinge, Gäste – Gastgeber, Alteingesessene, Empfangende. Es wird gegeben und genommen. Die Verhältnisse sind an Erwartungen gebunden.
Die Gastfreundschaft ist die Regelung eines temporären Aufenthaltes. Der Gast hat wieder zu gehen. In Anbetracht der heutigen Umstände von Migration und Flucht wird die Gastfreundschaft der Realität nicht gerecht.
Verabschieden wir uns also von der Gastfreundschaft und der Willkommenskultur, denn sie erlauben uns nicht, einen Raum zu eröffnen, in dem gemeinsam neue Bedeutungen von kultureller Identität ausgemacht werden können.
Verabschieden wir uns als nächstes von der Integration. Als Werkzeug der Kontrolle und Regulierung, wer sich anzupassen hat und wie, und wer sich überhaupt anpassen kann, läuft das ganze Konzept auf eine Assimilationsforderung hinaus. Diese Forderung ist vor allem in der schweizerischen Integrationsdebatte sehr präsent. Verlangt wird Unterwerfung, toleriert wird wenig Andersheit. Die Integration ist einseitig, fordernd und beherrschend. Sie hatte niemals die Absicht, Vielheit zu fördern.

Adieu.

Das Manifest, ein Versuch. Ein Versuch um dem Dilemma, den Widersprüchen, den Grenzen aller Arten, der Wut sowie der Traurigkeit eine neue Ausgangslage zur Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Mit dem Manifest möchte ich meine erlebten und erlesenen Erfahrungen in etwas verpacken, das zum Nachdenken und Disskutieren einlädt. Das Manifest ist eine Momentaufnahme, ohne Anspruch auf Statik. Es soll weiterentwickelt und in seinem besten Moment zur Vision werden um weiter zu konkreten Handlungen zu führen.

/ Ankommenskulturen haben das Ziel, das Leben für alle lebenswerter zu gestalten.

/ Mit Ankommenskulturen lernen Menschen anzukommen, und ankommen zu lassen.

/ Ankommenskulturen ermöglichen jeder und jedem, anzukommen.
Ankommen ist ein Prozess von einem örtlichen Ankommen hin zu einem Sich-Wohlfühlen.
Unabhängig davon, wie lange dieser Prozess dauert.

/ Ankommenskulturen stehen für Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Verantwortung aller Beteiligten in diesem Prozess.

/ Ankommenskulturen bringen Situationen hervor, die Begegnungen entstehen lassen.
Daraus entstehen Beziehungen. Beziehungen zu Menschen, Orten, Geschehnissen und der Umwelt.

/ Diese Beziehungen bestimmen soziale, politische und kulturelle  Prozesse.

/ Mit Ankommenskulturen entsteht bedingungsloser Zugang zu Orientierung, Rechten, Bildung und Gesundheit. Dadurch wird selbstbestimmte Teilhabe ermöglicht.

/ Kultur steht für gemeinschaftliche Gewohnheiten.

/ KulturEN stehen für ortsabhängige Differenzen, aber auch für die jeweiligen individuellen Unterschiede.

/ Ankommenskulturen ermöglichen eine Gesellschaft, die für die Gesamtheit aller Vielheiten steht.
Eine Gesellschaft aus mehreren Kulturen zusammengesetzt, die viele kulturelle Eigenheiten teilen.

/ Ankommenskulturen bedeuten ein Zusammenleben, welches nicht territorial bestimmt ist.

/ Ankommenskulturen fordern und fördern die Kommunikation und die gleichrangige Koexistenz aller beteiligten gesellschaftlichen Kräfte.

/Ankommen bedeutet von- und miteinander lernen. In gegenseitigem Respekt.