Postkarten aus Italien: Ethnische Überfälle und militärische Interessen des Staates

Am 12. April 2017 verabschiedete die italienische Regierung zwei Gesetzesdekrete über Einwanderung und Sicherheit, die von dem neu ernannten Innenminister Domenico (Marco) Minniti unterzeichnet wurden. Beide Dekrete, jetzt Gesetze, basieren auf einem verschärften Umgang mit Migrationsphänomenen. Die Logik dahinter ist ein Fortbestehen und Verstärken von polizeilichen und militärischen Instrumenten der Regierungsführung und die Verfolgung von Organisationen der gegenseitigen Hilfe und von Oppositionsbewegungen.
Das Migrations-Dekret wird genutzt, um den institutionellen Mechanismus der Produktion illegaler Personen zu erhöhen. Mit Hilfe der Verstärkung der französischen, österreichischen und schweizerischen Grenzen verhindern die Massnahmen des elektronischen Fingerabdrucks (auch gewaltsam, auf nicht-gesetzlicher Basis durch Hotspot-Strukturen), dass Migrant*innen in anderen Staaten Asyl beantragen können, was zu einer Art gefangen sein innerhalb der italienischen Territorien führt. Die Regierung fördert so in der Praxis ein zweigleisiges Justizsystem mit einem separaten Rechtsverfahren für Ausländer*innen, das ihre Rechtsansprüche nicht gewährt.
Das Sicherheitsdekret hindert Bürgermeister*innen und Kommunalverwaltungen daran, eine Sozialpolitik zur Unterstützung der Lebensbedingungen der weniger wohlhabenden Menschen umzusetzen, gestattet dagegen polizeiliche und administrative Massnahmen zur Verfolgung dieser Menschen.


Zwischen den beiden Dekrete erkennen wir einen gemeinsamen Entwurf, in dessen Mittelpunkt eine präzise Vorstellung von sozialer Ordnung steht. Diese stark ausschliessende Normierung, die Hand in Hand mit militärischen und komerziellen Interessen geht, entsteht durch ein vertikales Management sozialer Konflikte, das sich auf Regulierungstechniken und immer engere Mobilitätskontrollen stützt.
Von diesen administrativen Strafmassnahmen betroffen sind Individuen oder Gruppen, die politisch unerwünscht sind oder deren Marginalisierung vom ökonomisch-produktiven Apparat als nicht extrahierbare Kräfte ausgeschieden werden.
Die Sonderregelungen für „interessante“ Gebiete brachten wichtige Präzedenzfälle hervor betreffend der Massnahmen, die von den letzten Regierungen gegen aktive Oppositionsbewegungen ergriffen wurden, wie die Kämpfe gegen den Bau der TAP (Trans Adriatic Pipeline) im Salento. 2012 definierte die Regierung von Berlusconi die von der TAV (Treno Alta Velocità Torino Lione) abgedeckten Gebiete als „Gebiete von nationalem strategischem Interesse, in denen der Zugang im militärischen Interesse des Staates verboten ist“. Mit Renzi wurde die Regelung im Jahr 2015 auf die Bereiche der TAP ausgedehnt.
Es fehlt nicht an Beispielen für administrative Massnahmen und einer Militarisierung von Territorien auf Kosten einer Bevölkerung, die als „innerer Feind“ behandelt wird. Diese Mechanismen werden im Interesse multinationaler und industrieller Vereinigungen aktiviert und folgen einer streng einer Polizeilogik, die „eine einzigartige Hierarchie der Wichtigkeit zwischen der Sicherheit der Dinge und der Sicherheit der Menschen“ festlegt.

This text put together press review and personal reflection of the author. While analyzing the discriminatory assumptions and the catastrophic effects of the new Italian law regarding security and migration, this text wants to rise attention to the connections existing between economical interests and control of mobility. The author of this article grew up in Italy. Like many people of her generation, after fighting against the cuts in education and social spending following the economical crises, she left the country in search (maybe illusory) of better conditions.

Was wollte ich eigentlich von der Migration?

Migration von Menschen hat verschiedene Gründe. Oft steht der Wunsch dahinter, eine bessere Situation zu erreichen und grundlegende Menschenrechte zu haben. Migration ist eine Form der Fortbewegung zwischen zwei geografischen Orten und nicht nur ein soziales Problem, sondern auch eine Manifestation von Mobilität, Willensfreiheit und Wahlfreiheit von flüchtenden Menschen.

Im Jahr 2015 haben Tausende von Menschen aus Asien und Afrika eine tödliche Reise und Todesängste auf sich genommen, um das Minimum eines sichereren Lebens zu finden. In den Jahren 2015 und 2016 hat die Menschheit eine Situation erlebt, in der tausende von Menschen sich in ihrem Land nicht mehr sicher fühlen konnten und ihre Grundbedürfnisse nicht gewährleistet waren. Tausende Kilometer haben die Personen zurückgelegt, auf den Wegen, auf denen es für sie möglich war – in physisch und psychisch schlechten Zuständen. Hungrig haben sie überall – in den Bergen, in Bahnhöfen, unter Brücken und unter freiem Himmel – geschlafen. Tage und Nächte riskierten sie ihr Leben bei einer gefährlichen Überfahrt über die Berge und das Meer, um ihre verlorene Zukuft zu finden. Aber leider haben viele diese Zukunft immer noch nicht gefunden. Die tausenden Menschen, die mit den Hoffnungen eines besseren Lebens nach Europa geflüchtet sind, haben die Welt schockiert. Inzwischen wurden tausende Menschen in Schiffslagern, unter Lastwagen oder im Meer getötet. Sie wussten, dass sie vielleicht sterben werden, aber sie hatten keine andere Möglichkeit. Niemand weiss von denen, die verschwunden sind. Und viele von denen, die in einem sicheren Land angekommen sind, sind immer noch nicht sicher und ertragen belastende Situationen. Die Emigration geht weiter, die Zukunft der neu Geflüchteten ist in einem unklaren Zustand und zusätzlich zu den Ansiedlungsproblemen sehen sich die MigrantInnen in der neuen Gesellschaft einer Identitätskrise ausgesetzt. Noch immer wird der Mensch nicht als Mensch anerkannt, sondern muss vor allem ein Identitätsdokument aus Papier haben. Wo bin ich, ich der Mensch?

Flucht kann aus verschiedenen Gründen sowohl innerhalb als auch ausserhalb eines Landes erfolgen. Aber letztendlich steht hinter jeder Flucht der Wunsch, eine bessere Situation zu erreichen. Im Fall von durch Krieg traumatisierten Menschen, die immer fern ihrer Heimat waren und immer noch sind, ist Flucht nicht nur Migration, sondern hauptsächlich eine Verletzung auf emotionaler Ebene. Die meisten Menschen emigrieren, um ihre grundlegenden Menschenrechte zu erreichen. Der Wunsch nach dem Genuss dieser Menschenrechte ist in der Tat der fundamentale Grund für Menschen, die Last der Flucht auf sich zu nehmen.

Was wollte ich eigentlich von der Migration und was waren meine Erwartungen? Das erste und wichtigste der Menschenrechte ist das Recht auf Leben, das Recht zu leben. Weiter sind in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert: das Recht auf Sicherheit, das Recht auf Identität, das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit, das Recht zu heiraten, das Recht auf freie Meinungsäusserung, das Recht auf Meinungsfreiheit und viele mehr.

Viele Menschen sind immer noch dabei, diese Grundrechte zu erreichen. Krieg, Gewalt und Unsicherheit in verschiedenen Ländern sind auf dem Höhepunkt. Die Sicherheit der Menschen ist jeden Tag bedroht. Seit vielen Jahren vergeht kaum ein Tag, ohne eine Nachricht von Todesfällen durch Krieg, Bombardierungen, Explosionen und Selbstmordattentate, was auch der Grund für die Emigration ist.

Was Menschen von Immigration wollen: zuallererst Überleben. Erst danach kommen menschliche und soziale Bedürfnisse, die ein Mensch als Erdling in der neuen Gesellschaft empfindet – was in einer zweiten und fremden Gesellschaft nicht einfach ist. Nun kommen wir zum Schluss, dass wenn ein Mensch nicht
mehr von Krieg und Unsicherheit bedroht ist – was mit der Migration geschieht – auch emotional und empfindsam ist. Viele Freunde, die jahrelang mit ihnen gelebt haben und aufgewachsen sind, werden sie vielleicht nie wieder sehen. Und Menschen, die in der Gesellschaft neu sind, begegnen anderen Herausforderungen als Menschen, die alle in derselben Gesellschaft aufgewachsen sind und sich kennen. Es ist eine grosse Herausforderung, fremd in einer Gemeinschaft zu sein.
Aus bürokratischer Sicht werden Flüchtlinge in Bezug auf Bürgerrechte wie Menschen der zweiten oder dritten Kategorie eingestuft. Für eine lange Zeit sind sie sogar eingeschlossen und können nicht selber entscheiden, in welcher Stadt und Provinz sie arbeiten und leben wollen. Für alles muss mensch sich qualifizieren. Dies ist sehr schmerzhaft und es ist ein schweres Gefühl, das eine Person mental trifft und manchmal das Vergnügen und die Lebensqualität nehmen kann.

In Bezug auf die Bürgerrechte ist ein*e Mirgrant*in in vielem benachteilig und das Gefühl der sozialen Gerechtigkeit wird in Frage gestellt. Daher kann das Phänomen der Migration als eine menschliche und moralische Krise bezeichnet werden. Viele Menschen fliehen vor anderen Menschen und wollen für sich selbst einen neuen Platz in einer neuen Gesellschaft schaffen. Das ist emotional hart, dieses ‘’fremd sein’’ im Inneren aufzulösen.

Der Bezug des Textes kommt aus der Erfahrung des Autors. Er beschreibt, warum Menschen wegen Diskriminierung durch Menschen weg gehen und nach anderen Wegen zum besseren Leben suchen. Der Autor kritisiert die Strukturen, die sein Erleben prägten.

Gedanken zur anonymen Veröffentlichung der Texte im FIASKO

Die Texte im FIASKO werden von Einzelpersonen verfasst und anschliessend im Kollektiv kritisch besprochen. Wir sind uns nie ganz einig geworden, ob- und in welcher Form die Namen der Autor*innen genannt werden sollen. In einem weit verbreiteten Medienverständnis dient der Name dazu, einen Text glaubwürdiger und seriöser wirken zu lassen, insbesondere da er auch als Adresse dient für allfällige Rückfragen oder Kritik. Es gibt aber einige triftige Gründe, die gegen die Benutzung der eigenen Namen im Kontext dieser Zeitung sprechen. Einerseits geht es um Schutz. Einige Schreibende bevorzugen es zu ihrem eigenen Schutz, nicht direkt mit dieser Zeitung in Verbindung gebracht zu werden. Behörden könnten zum Beispiel Druck auf Personen im Asylprozess ausüben und gewisse Inhalte könnten auf rechtlicher Ebene problematisch sein. Andererseits will sich niemand von uns mit den Texten profilieren und es soll nicht der Name der*s Schreibenden im Vordergrund stehen sondern der Inhalt. Einigen von uns ist es einfach auch unangenehm, wenn der eigene Name in der Zeitung steht. Um einschätzen zu können, mit welcher Motivation und aus welcher Position ein Text geschrieben wurde, haben wir uns entschieden, den Texten eine Kontextualisierung beizufügen. Auch gibt es den Diskussionsabend und eine E-Mail Adresse. Über beide Kanäle freuen wir uns kritisiert zu werden, dadurch eine Diskussion anzuregen und unsere Auseinandersetzungen gemeinsam weiterzuführen.

Zur Erweiterung des Bässlerguts

Das Straf- und Ausschaffungsgefängnis Bässlergut soll um einen zweiten Bau erweitert werden. Der Neubau wird 78 Plätze für den regulären Strafvollzug bieten, wodurch im „alten“ Gebäude neu 73 Plätze der Ausschaffungshaft zur Verfügung stehen. Mit der Erweiterung des Bässlerguts zeigen sich die Entwicklungen zunehmender Kontrolle, Überwachung und Kategorisierung von Menschen.

Geschichte des Bässlerguts

Das Ausschaffungsgefängnis Bässlergut verdankt seinen Namen der Familie Bässler, die bis 1962 das Grundstück als Hofgut Otterbach bewirtschaftete. Nachdem der Boden durch den Staat erworben wurde, entstand darauf 1972 eine Empfangsstelle für Asylbewerber*innen und im Jahr 2000 der heutige Ausschaffungsknast Bässlergut I (Der Einfachheit halber nennen wir den alten Gebäudekomplex Bässlergut I und die Erweiterung Bässlergut II), mit 48 Haftplätzen. Folglich ist die Geschichte rund ums Bässlergut relativ jung und soll hier als Produkt einer Politik verstanden werden, welche nicht der Norm entsprechende Menschen ausgrenzt und kriminalisiert. Dies wird im steigenden politischen Willen der Schweiz ersichtlich, Menschen – in diesem Fall Migrant*innen – konsequenter in erwünscht (nützlich) und unerwünscht (unnützlich) zu kategorisieren und Letztere schnell loszuwerden. Diese Kategorisierung von Migrant*innen geht mit deren Kriminalisierung einher, welche mit der Ausländergesetzrevision 1994 weiter vorangetrieben wurde. Damals befürwortete eine Mehrheit der abstimmenden Bevölkerung die Integration von Zwangsmassnahmen im Ausländergesetz, wodurch die Freiheitsstrafe zur Vorbereitung der Ausschaffung (Administrativhaft) legalisiert wurde. Diese Entwicklung ist nicht nur in der Schweiz, sondern auch international zu beobachten. So festigten Rückübernahmeabkommen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Bekämpfung von Menschen ohne Bewilligung.1 Während die rechtlichen Grundlagen für den Ausbau der Freiheitsstrafe geschaffen wurden, stieg aber der bürokratische Aufwand der Durchführung von Wegweisungen. Folglich dauerte die Vorbereitungszeit zur Ausschaffung länger, während die politische Agenda auch die Anzahl auszuschaffender Menschen ansteigen liess. Die für Ausschaffungen reservierten Plätze in den Knästen des Strafvollzugs Schallenmätteli für Männer und Waaghof für Frauen – wurden der neuen Situation nicht mehr gerecht: neue Plätze mussten geschaffen werden. Die Forderungen nach dem Ausbau der Knäste ging mit der (räumlichen) Trennung von Gefangenen einher. Da Menschen in Ausschaffungshaft sich in Adminstrativhaft be nden (also nicht auf Grund von einer Straftat der Freiheit entzogen werden), sollten sich die Haftbedingungen von jenen im Strafvollzug oder der Untersuchungshaft unterscheiden, so die Argumentation. Um diese Unterscheidung von Gefangenen zu realisieren, eignete sich der Neubau von separaten Knästen. Auch wenn sich in Realität die Haftbedingungen kaum unterscheiden (siehe unten), wurde diese Kritik der Ausschaffungshaft zur Legitimation von neuen Knästen genutzt.2 Dennoch kam es im Jahr 2011 mangels Haftplätzen im Gefängnis Waaghof, zur Umnutzung einer Station für den regulären Strafvollzug im Bässlergut I. 2012 und 2013 wurde je noch eine weitere Station für den Strafvollzug in Betrieb genommen. Das Bässlergut I bietet seitdem Platz für 30 Häftlinge in Ausschaffungshaft und 43 Häftlinge im Strafvollzug. Parallel dazu wurde aus der ursprünglichen, angrenzenden Empfangsstelle für Asylbewerber*innen das heutige Empfangs – und Verfahrenszentrum (EVZ), welches Platz für bis zu 500 Menschen bietet. Diese beiden Entwicklungen gingen mit einer vermehrten Privatisierung einher. Die Privat rma Securitas ist für die Sicherheit im EVZ sowie im Bässlergut zuständig. Im EVZ experimentiert zudem die Aktiengesellschaft ORS mit pro torientierter Betreuung. Dies zeigt sich etwa in der faktischen Zwangsarbeit zu 6.50CHF/2h der Insassen für private Firmen und deren Pro t. Seit dem Frühjahr 2017 wird an der Erweiterung des Bässlergut I gebaut, welche Platz für 78 Häftlinge des Strafvollzugs bieten wird und Ende 2020 in Betrieb genommen werden soll. Die jetzigen Strafhaftplätze werden dann wieder zur Ausschaffungshaft genutzt, womit der Trennung und Kategorisierung der Häftlinge wieder nachgegangen wird. Es sind folglich momentan neue Knastzellen in Entstehung, welche in Zukunft mit Menschen gefüllt werden müssen und die repressiven Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte weiter präzisieren.

Lager mit Sonderrechten

Das EVZ wird im Rahmen der Asylreform 2016 zukünftig in ein Bundeszentrum umgewandelt. Schweizweit sind 16 Bundeslager mit Platz für 5000 Personen geplant. Dabei wird zwischen Verfahrens-, Ausreiseund besonderer Zentren unterschieden. Im Ausreisezentrum wird die Ausschaffung vorbereitet, dafür sind mindestens 100 Tage vorgesehen und betroffen sind meist Menschen, welche auf Grund des Dublin-Abkommens in andere europäische Staaten abgeschoben werden sollen. Die zwei geplanten „besonderen Zentren“ sind spezi sch für sogenannte „renitente“ Asylbewerber*innen, wobei unbestimmt bleibt, ab wann unangepasstes Verhalten als renitent – also störend – betrachtet wird. In Verfahrenszentren werden Befragungen, Rechtsberatungen, Rückkehrberatungen sowie Unterbringung und Beschäftigung von Migrant*innen verwaltet. Die Zeit dieser Verfahren soll auf 140 Tage reduziert werden, allfällige Beschwerdefristen werden dadurch von 30 Tage auf 10 Tage minimiert.3 Durch die in der Aslygesetzrevision 2016 verankerte Konzentrierung der Asylbewerber*innen, sollen deren Anträge künftig ”effizient, kostengünstig und gerecht“ (Bundesrat) behandelt werden können.4 Die Effizienz, von welcher gesprochen wird, bedeutet in Realität, dass Migrant*innen in einem Lager konzentriert und isoliert werden. Durch die Beschleunigung der Verfahren wird die Kategorisierung von Migrant*innen in „erwünscht“ und „nicht-erwünscht“ radikaler und rücksichtsloser umgesetzt. Denn es wird schwerer den Kriterien zu entsprechen sowie sich einem juristischen Entscheid zur Wehr zu setzten. Hinzu werden Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten an Wirtschaftsabkommen gekoppelt (siehe Fiasko Nr. 1/2017), wodurch auch die Zwangsdeportationen aus dem Bässlergut I geschmeidiger ausgeführt werden können. Die kostengünstigeren Verfahren sollen durch die Zentralisierung von Personal und Infrastruktur erreicht werden. Für die Migrant*innen im Verfahren bedeutet das ein Alltag innerhalb des Lagers. Diese praktische Eingrenzung wird durch Stacheldrähte, Überwachungskameras und Ausgangskontrollen zusätzlich verstärkt. Auch die räumliche Nähe der unter-schiedlichen Bauten wiederspiegelt die Realität: Vom Verfahrenszentrum direkt in den benachbarten Ausschaffungsknast, vom Strafvollzug im Bässlergut II wegen illegalem Aufenthalt über einen eingebauten Korridor direkt ins Bässlergut I. Damit das letzte Kernkriterium der Reform der „gerechten Verfahren“ umgesetzt werden kann, wurden sogenannte unabhängige Jurist*innen hervorgehoben. Dass deren Unabhängigkeit zweifelhaft ist, wurde schon mehrmals festgestellt. Dabei sind die kurzen Beschwerdefristen, die räumliche Nähe der Jurist*innen zu Mitarbeiter*innen des Migrationsamtes und Pauschalbezahlung nur einige kritische Faktoren.5 Was jedoch selten angesprochen wird, sind die grundlegenderen Zusammenhänge Angefangen mit der blossen Existenz eines Ausländerrechtes. Ein Gesetz, welches seit 1934 existiert und sich nur an eine spezi sche soziale Gruppe richtet. Es ist folglich in seiner Existenz rassistisch und ausschliessend. Genau wie andere Teile des Schweizer Rechtes ist es geschaffen, um die Privilegien einzelner Personen und deren Eigentum zu schützen. Spricht man von den Rechten von Migrant*innen, werden diese immer nur dann gewährt, wenn sich ein ökonomischer Nutzen daraus ziehen lässt oder die Schweiz das Bild einer Nation, in der die Menschenrechte bedingungslos eingehalten werden, aufrechterhalten will. Hiermit beziehen wir uns auf einen häu gen Einwand, dass im Asylsystem ja die Menschenrechte berücksichtigt würden. Die Wirklichkeit ist vielmehr deren Instrumentalisierung. So unterstützen NGOs wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe, Caritas Schweiz, Amnesty International, Heilsarmee, HEKS, Schweizerische Arbeitshilfswerk SAH und der Verband jüdischer Fürsorge diese humane Farce der Politik.6 Auf einer menschlichen, individuellen Ebene, können deren Unterstützungsleistungen durchaus die Situation einzelner Individuen beeinflussen und sollten dafür auch wertgeschätzt werden. Bei der Betrachtung auf einer strukturellen Ebene wird die Problematik dahinter jedoch rasch offensichtlich. Denn durch die Unterstützung, ob rechtlich oder alltäglicher Art, kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) seine Verwaltung von Migrant*innen in eine humanitäre Farce hüllen. Wir sehen an den aktuellen Entwicklungen wie plötzlich die Freiheitsstrafe (im Verfahrenszentrum oder im Knast), der Zwang zur Arbeit in Beschäftigungsprogrammen, Isolierung und der Tod (ob auf der Flucht oder aus Ohnmacht in den Asylstrukturen) Teil einer „humanen Asylpolitik“ werden.

Freiwilligenarbeit / Sozialarbeit innerhalb den vorgegeben Strukturen des Lagers werden, wenn auch gut gemeint, Teil vom Lager. Sie werden einerseits in der öffentlichen Debatte helfen, das Lager als humaner Ort zu legitimieren. Anderseits übernehmen sie eine deeskalierende Funktion, in dem sie helfen, die „Eingelagerten“ zu besänftigen und von der Realität abzulenken. Solidarität ist enorm wichtig, sowie auch individuelle Unterstützung, doch sollte dabei eine Selbstre exion über die eigene Rolle bestehen und dementsprechend Wege gefunden werden, wie die Lagerstrukturen und somit die Isolierung und Fremdbestimmung aufgebrochen werden können. NGOs wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe sind ein Beispiel für all diejenigen Organisationen, die die grundlegenden Probleme nicht ansprechen und bei der Ausgestaltung der Verwaltung des Elends beratend zur Seite zu stehen. Die neue Strukturierung der Schweizer Migrationspolitik zielt folglich darauf ab, Migrant*innen stärker zu konzentrieren, zu isolieren und zu verwalten. Die beschreibenden Schlagwörter von ”ef zient, kostengünstig und gerecht“ versuchen somit eine Lagerpolitik als demokratisch und fair zu verkaufen; in Wirklichkeit beschreibt es jedoch ein unterdrückendes und ausbeuterisches System. Abschliessend ist wichtig festzuhalten, dass dies durchaus nicht neue Tendenzen sind. Das Neue der aktuellen Entwicklungen ist nur, dass nun auch die Infrastruktur für die bereits vorhandenen Abläufe der Migrationspolitik gebaut wird. Diese Infrastruktur wird es noch schwerer machen, sich autonom zu bewegen, zu organisieren und selbstbestimmt zu leben. Während die Aggressivität der Behörde steigt, wird die Erfüllung der Vorschriften noch schwerer – und gegen Abweichungen konsequenter vorgegangen werden.

Exkurs: Lager

Die Bundeszentren erfüllen die Eigenschaften von allen Lagern. Diese Eigenschaften beinhalten die räumliche Konzentration einer spezifischen sozialen Gruppe sowie die Unterwerfung und Kontrolle derselben, was entweder die Re-Integration in die Gesellschaft oder die definitive Ausgrenzung / Wegweisung aus dieser zum Ziel hat. Dabei beschränken sich Lager nicht nur auf Migrant*innen, sonder auf diverse soziale Gruppen. So existieren in der Schweiz Lager für Menschen mit einer Behinderung, Menschen mit psychischer Erkrankung oder ältere Menschen; mit der selben Funktion des Ausschlusses wegen geringem ökonomischem Wert.

Das Aufleben der Freiheitsstrafe

Die aktuellen Entwicklungen betreffen jedoch nicht nur Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere. Mit der Erweiterung des Bässlerguts werden auch Haftplätze für Menschen im regulären Strafvollzug erstellt. Vorgesehen sind diese Plätze für kurze Haftstrafen bis zu einem Jahr. Das neue Sanktionsrecht, welches ab Januar 2018 in Kraft treten wird, sieht eine Lockerung bei der Aussprechung von kurzen Freiheitsstrafen von unter sechs Monaten vor. Dies soll zum Tragen kommen wenn die Gefahr besteht, dass der Täter / die Täterin erneut straffällig wird oder aufgrund der finanziellen Situation einer verurteilten Person anzunehmen ist, dass sie nicht in der Lage ist, der ausgesprochenen Geldstrafe nachzukommen. Diese Umwandlung von einer Geld – zu einer Freiheitsstrafe trifft in der Praxis oft bei einer Verurteilung aufgrund eines illegalen Aufenthaltes zu. Dabei übernimmt der Knast in unserer Gesellschaft eine abschreckende Funktion ein. Für viele Menschen reicht die Drohung / Möglichkeit eines Freiheitsentzug und die damit verbundene Konsequenz, für eine vom Staat festgelegte Zeit, komplett fremd verwaltet und jeglicher Autonomie beraubt zu werden, aus, um sich nicht gegen die bestehende Ordnung zu wehren und die eigene Position und Funktion in dieser Gesellschaft zu akzeptieren. Natürlich unterscheiden sich die Konsequenzen einer Haftstrafe und die Perspektiven am Ende der Strafzeit für Menschen mit Schweizer Papieren von denjenigen von Menschen ohne Schweizer Papiere, jedoch bleibt die gesellschaftliche Funktion des Knastes dieselbe.

Widerstand

Das Bässlergut wird seit seinem Bau von unterschiedlichen Personen aus dem Innern und von Aussen bekämpft. Rebellionen innerhalb des Gefängnisalltags in Form von Beleidigungen des Personals, Hungerstreiks oder Arbeitsverweigerung widersetzen sich der repressiven Praxis, während Aussen verschiedene Netzwerke die Gefängnispraxis beobachten, dokumentieren und vehement kritisieren. 2008 stifteten einige Häftlinge einen Brand und brachten damit ihre Wut zum Ausdruck. Als Folge wurden sie hart sanktioniert (z.B. mit Besuchsverbot). 2010 kam an die Öffentlichkeit, dass ein minderjähriger Mann nackt in Isolationshaft gehalten wurde.7 Der damalige Direktor musste seine Stelle daraufhin verlassen. Danach lief vieles „politisch korrekter“ ab, da Schikane und Unterdrückung jedoch der Freiheitsstrafe inhärent sind, nahmen diese dabei keineswegs ab. Weiterhin ermächtigen sich Häftlinge innerhalb des Bässlerguts selber, auch wenn der psychische Druck und Handlungsspielraum innerhalb der Mauern extrem stark lasten. Hungerstreiks, Drohungen, Verweigerung der Zwangsausreise und / oder der Knastarbeit sind auch heute Teil des täglichen Widerstands. Angeprangert wird dabei die Praxis der Isolationshaft (Menschen werden teilweise immer noch nackt eingesperrt), sowie die schlechte Nahrung und unzureichende medizinische Versorgung. All dies wurde durch Gespräche mit inhaftierten Menschen bekannt. Zudem ziehen seit Jahren kleine und grössere Demonstrationen vor das Bässlergut, Farbangriffe und Feuerwerke symbolisierten die Solidarität mit den Gefangenen. Das Bässlergut entwickelte sich dadurch zu einem Ort in Basel, an dem Menschen ihren Unmut gegen das bestehende System äussern, aber auch wo der Staat seinen „Freund und Helfer“ in Kampfmontur losschickt und damit seine Macht demonstriert. 2015 kam es im Rahmen einer Demonstration gegen die in Basel statt ndende Militärübung CONEX vor dem Bässlergut zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen einigen Demonstrant*innen und den Bullen, wobei Letztere entschlossen angegriffen wurden. Im Jahr 2016 gab es diverse Versuche, Ausschaffungen durch das Manipulieren des Eingangtors und das Blockieren der Einfahrt, direkt zu verhindern. Zudem gab es verschiedene Knastspaziergänge, wo sich die Menschen hinter und vor dem Gitter ihre gegenseitige Solidarität bekundeten und kurze Dialoge möglich waren. Seit dem Baubeginn von Bässlergut II im März 2017, gab es diverse Sabotageakte auf Kleinund Grossunternehmen, die sich direkt am Bau beteiligen und daran bereichern. Eine Demonstration mit dem Endziel Bässlergut, wurde von den Bullen nach einem misslungenen Kessel-Versuch aufgelöst. Doch kritische Diskussionen, Info-Veranstaltungen und praktische Aktionen werden damit nicht eingedämmt, sondern vielmehr verbreitet. Das Bässlergut wurde zu einem Ort, der viele Menschen und vielfältige Widerstandsformen vereint, um eine grundsätzliche Kritik an den aktuellen Entwicklungen und gesellschaftlichen Verhältnissen auszuüben. Denn es sind die drei ineinander ver-wobenen Ebenen der Verwaltung von Migrant*innen im Bundeslager und Einsperren in gesonderten Knästen, die Zunahme von Freiheitsstrafen im Strafvollzug sowie die Rolle humanitärer Organisationen, welche im Projekt Bässlergut klar ersichtlich werden. Neben dem Ort, wo Migrant*innen ankommen der Ausschaffungsknast, welcher wiederum mit einem Korridor zum Strafvollzug verbunden ist. Die Infrastruktur ist aufeinander abgestimmt, genauso wie ihre gesellschaftlichen Funktionen auch miteinander in Verbindung stehen: Menschen, die nicht der Norm entsprechen, welche nicht den ökono- mischen Nutzen erbringen oder sich gar dieser zu Wehr setzen, werden kriminalisiert, konzentriert und eingesperrt. Durch die breite Dimension der Entwicklungen um das Bässlergut, wird auch eine Palette von Widerstandsformen möglich und notwendig. Ob autonome Unterstützungsstrukturen, die Verbreitung einer grundlegenden Kritik, Druck auf ausführende Akteure oder andere Formen des Unmuts – wichtig ist, dass wir dabei laut, kreativ und störend bleiben!

Wir sind zwei Frauen, die in Basel aufgewachsen – und mit den Privilegien des Schweizer Passes grossgeworden sind. Durch persönliche Kontakte und eigene Erfahrungen sind wir wütend über die herrschenden Zustände und auf die Gesellschaft, von der wir selbst ein Teil sind.

Es hört doch jeder nur, was er versteht

Eine Auseinandersetzung mit Gayatri Chakravorty Spivaks Essay „Can the Subaltern speak?“

Der Text ist eine Zumutung. Aber die Fragen scheinen grundsätzlich wichtig: Wer spricht? Wer wird nicht gehört? Und weshalb (nicht)? Im Editorial dieser Zeitschrift steht: „Hier sollen kritische und selbstbestimmte Texte Platz nden von Menschen, […] die genug haben von einer privilegierenden und ausgrenzenden Gesellschaft und ihre Stimme erheben wollen…“ Wenn wir uns also gegen Ausgrenzung aussprechen und gleichzeitig ein Raum öffnen für Menschen, die ihre Stimme erheben wollen – ist es wichtig, dieses Vorhaben zu hinterfragen und zu überlegen: Wer spricht? Wer wird nicht gehört? Und weshalb (nicht)?

Welche Stimme wird laut im Essay, der hier zur Auseinandersetzung dient?

Gayatri Chakravorty Spivak wurde in Kolkata, Indien, geboren. Sie hat Literaturwissenschaften studiert und später in Amerika eine Karriere im Universitätsbetrieb eingeschlagen. Ihre Arbeit galt der Auseinandersetzung mit abendländischer Philosophie, sowie marginalisierten Menschen. „Can the subaltern speak?“ ist 1988 erschienen und gilt als ein Grundlagentext der postkolonialen Theorie. In dieser setzen sich Wissenschaftler*innen mit den Folgen des Imperialismus auseinander. Die Frage ist: Welche Prägungen haben Kolonien bis heute im Handeln und Erleben der Menschen und Gesellschaften hinterlassen? Im Fiasko stellen wir uns verschiedenen Facetten des Migrationsregimes. Da ist das Bewusstsein für mögliche koloniale Prägungen wichtig – denn Migration verläuft häu g über Grenzen von im Imperialismus aufgebauten Machtstrukturen hinweg.

Was steht geschrieben?

Verschiedene Rezensionen, Interpretationen und Kritiken verstehen Spivaks Text unterschiedlich und setzen eigene Schwerpunkte. Sie repräsentieren und reduzieren. Hier also mein Versuch, Spivaks Text auf wenige Aussagen herunterzubrechen: Wir können die Erfahrung anderer nicht immer verstehen. Wir leben in unterschiedlichen Umständen und kommunizieren verschiedenartig. Innerhalb von globalen Machtstrukturen werden unterdrückte Menschen nicht gehört, wenn man ihnen mit vorgefertigten Vorstellungen, wie sich etwas anfühlt und wie man kommuniziert, entgegentritt. Sie werden nicht aus ihrer Position in der Gesellschaft befreit, wenn man über sie spricht – in generellen Aussagen über Unterdrückte, oder, indem Einzelne für viele sprechen.

Was heisst Subaltern?

Den Begriff subaltern hat als erster Antonio Gramsci verwendet. Der Marxist hat seine letzten Jahre im Gefängnis verbracht – wo er „subaltern“ in seinen Wortschatz eingeführt hat. Nun kommt eine erste De nition: „Subaltern sind diejenigen, die keiner hegemonialen Klasse angehören.“ Um Subalternität zu verstehen, müssen wir also auch das Konzept einer Hegemonie begreifen. Hegemonie meint die Herrschaft von Staaten, Institutionen oder anderen Akteuren über das politische, religiöse, kulturelle oder wirtschaftliche Handeln anderer. Wobei diese Anderen keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, ihre Interessen und Vorstellungen durchzusetzen. Andere vertreten sie. Andere sprechen für sie.

Can the subaltern speak?

Subalterne können sprechen, aber sie werden weder gehört, noch verstanden. Sprechen bezieht sich nicht ausschliesslich auf verbale Äusserungen. Ihre Praktiken des Widerstandes werden nicht wahrgenommen oder missverstanden. So sind sie vom politischen und gesellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen. Die Hegemonie realisiert ihre Einheit institutionell und/ oder im Staat – die Subalternen sind eine fragmentierte Grup-pierung, der ein Selbstbewusstsein als Klasse fehlt. Ihren politischen Praktiken wird keine Bedeutung zugemessen, weil sie sich spontan, sporadisch, inkonsistent, unorganisiert und auf lokaler Ebene äussern.

Was soll man tun?

Gramsci stellte sich die Subalternen als potenziell revolutionäre Kraft vor und versuchte, ihre Zersplitterung durch Organisation zu überwinden. Das kritisiert Spivak. Subalternität ist keine Identität, sondern die Bezeichnung einer Position innerhalb der Gesellschaft – nämlich das Gegenüber der Hegemonie. Organisiert man eine heterogene Gruppe im Rahmen dieser Position, stärkt man lediglich die Position. Die Situation der Menschen verändert sich nicht, weil man nicht ihnen, sondern ihrer Position in der Gesellschaft begegnet. Essentialist*innen nehmen an, dass es ein Etwas gibt, das allen der gleichen Art gemeinsam ist. Der Essentialismus ist eine philosophische Position. Spivak wirft „den westlichen Linken“ vor, eben diese auf die Subalternen anzuwenden. Weil sie Position und Identität verwechseln. Noch einmal: Es handelt sich nicht um eine solidarische, kulturell einheitliche Gruppe, sondern um Menschen mit unterschiedlichen Interessen.

Also wenden wir uns dem einzelnen Menschen zu?

Verstehen wir den Menschen als ungebundenes, selbstbestimmtes Individuum – oder nehmen wir an, dass die Arbeitsweisen und die politischen Strukturen die Begehren und Interessen eines Menschen beeinflussen? Marx dachte sich den Menschen in der zweiten Version. Er machte ein Beispiel: „Durch das fehlende kollektive Bewusstsein der französischen Kleinbauern, wählen sie einen politischen Repräsentanten, der eigentlich nicht an ihnen und ihrer Vertretung interessiert ist.“ Das eigentliche Interesse der Person und der darauf folgende Wunsch für konkrete Handlung in der Welt entsprechen sich nicht. Laut Spivak definieren Foucault und Deleuze (die „westlichen Linken“) das Subjekt als eine selbstbestimmte, in sich geschlossene Einheit im Einklang von Interesse und Wunsch für Handlung. Doch dieses souveräne Subjekt ist eine Annahme, die nicht vorausgesetzt werden kann. Der Versuch, einzelnen Subalternen eine Stimme zu geben, um sie aus ihrer Position zu befreien, missachtet, dass der funktionierende Mensch im Gefüge der internationalen Arbeitsteilung die Zusammenhänge und Mechanismen der Ausbeutung nicht kennen muss. Deshalb spricht er womöglich gegen seine eigenen Interessen. Sprechen muss kein Ausdruck von souveräner Subjektivität sein. Ohne Vermittlung können laut Spivak Subalterne nicht verstanden werden.

Wieso soll es nun doch Vermittlung geben, wenn Spivak für eine Welt eintritt, in der Menschen für sich selbst sprechen können und gehört werden. Befinden wir uns in einem Paradox?

Spivak versucht hier nicht Subalternen eine Stimme zu geben, sondern kritisiert andere, die diesen Versuch unternommen haben. Sie sagt, dass diese durch ihre Herangehensweise die Struktur von Hegemonie und Subalternität aufrecht erhalten hätten. Sie will erst die Strukturen aufbrechen, um differenzierter sein zu können und damit offen für eine gesellschaftliche Neuordnung.

Ist das lediglich Teil eines inneruniversitären Diskurses?

Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Spivak schreibt über postkoloniale Gesellschaften – die langfristigen Auswirkungen des Imperialismus. Indien war bereits in der präkolonialen Zeit von einem Klassen- und Kastensystem geprägt. Mit der Kolonisierung kamen neben dem Patriarchat und der Kastenordnung eine weitere herrschende Macht dazu – was die Missachtung der Subalternen verstärkte. Sie wurden entweder von den kolonisierenden oder von der nationalen Hegemonie repräsentiert. Ähnlich wie die Annahme, dass ab Etablierung des Frauenstimmrechts die Auseinandersetzung mit Gender-Themen irrelevant würde, wäre wohl die Meinung, dass sich mit der nationalen Unabhängigkeit von kolonisierten Staaten, das Erbe des Imperialismus aufgelöst hat. Die Haltung, die Vorurteile, die Bilder, die Annahmen über Normalität, die Grenzen des eigenen Horizonts – sie sind noch da und gehen uns alle an.

Um zu verstehen, wie es sich anfühlt, in eine Zitrone zu beissen, müssen wir in eine Zitrone beissen. Aber können wir verstehen, wie es sich für eine Zitrone anfühlt, gebissen zu werden?

Jemand kann nicht sprechen, weil er*sie vielleicht die Sprache nicht kann – oder nichts zu sagen hat – oder nichts versteht – oder schüchtern ist – oder vor etwas Angst hat. Ja wir können uns verschiedene Gründe dafür vorstellen und kennen sie teilweise selbst. Das könnte man als individuell bezeichnen. Weiter kennen wir strukturelle, institutionalisierte Ausschlussmechanismen wie Landesgrenzen oder Leistungsanforderungen mit Ausschlusskriterien, die eine gesellschaftliche Teilhabe für Alle verunmöglichen. Spivak bespricht weder nur das Problem, dass subjektive Erfahrungen nicht immer geteilt werden können, noch ausschliesslich politische und wirtschaftliche Machtstrukturen. Indem sie die komplexe Situation von Subalternen, insbesondere die der subalternen Frauen, aufzeigt, versucht sie, diese Position und die hegemonialen Verständnishorizonte, die zur einseitigen Sprachlosigkeit beitragen, zu verwerfen.

Was tut also Spivak?

Irritieren – anders fokussieren. Wird nur auf die Mikropolitik gehört, die sich auf lokale Widerstandsformationen konzentriert, werden makropolitische Konfliktlinien, die etwa durch den globalisierten Kapitalismus und nationalstaatliche Allianzen hervorgerufen werden, ignoriert. Spivak schlägt vor, genauer zu beschreiben, was verschiedene Lebensrealitäten von Menschen ausmachen. Die Frage dazu wäre: Was heisst es ein Mensch zu sein in bestimmten Umständen? Das wirkt der Darstellung einer undifferenzierten Gruppe, als Produkt der Kolonialisierung, entgegen. Spivak zieht heterogene Befreiungskämpfe in ihre wissenschaftliche Analyse ein. Das sind beispielsweise subsistenzwirtschaftende, unorganisierte, besitzlose Arbeitskräfte, indigene Analphabeten und Analphabetinnen, die in den Metropolen auf den Strassen oder eben auf dem Land oder in den Peripherien leben, ebenso wie die Frauenbewegung, die Bauernaufstände oder die Kämpfe der Indigenen.

Und was bringt uns das jetzt?

Spivak ist als Zeitzeugin und als Wissenschaftlerin im Wissenschaftsdiskurs zu verstehen. Und ich möchte trotzdem nicht davon abschrecken, ihren Text zu lesen, um weitere Aspekte davon zu verstehen und anhand ihrer Beispiele nochmal anders zu verstehen, was sie meint. Anwendungen der Gedanken gibt es in unserem Alltag in Basel genug.
In der Schweiz gibt es die Praxis der Glaubwürdigkeit bei Asylgesuchen. Das setzt voraus, dass Menschen über ihre Gründe, in die Schweiz zu kommen, sprechen müssen – so, dass es den festgeschriebenen Kriterien entspricht. Das setzt voraus, dass die Menschen ein entsprechendes Bewusstsein über ihre eigene Position und über politische Zusammenhänge haben. Um diese Praxis kritisieren zu können, kann Spivaks Kritik des souveränen Subjekts Argumente liefern. Wir können uns selbst Fragen stellen: Begegnen wir Positionen oder Menschen? Wollen wir vermittelnde Rollen einnehmen? Welche Rolle spielt das Fiasko diesbezüglich? Sind wir eine vereinzelte ungehörte Stimme? Werden wir verstanden? Wollen oder brauchen wir selbst Vermittlung? Und wie gehen wir mit Kommunikation um, die wir nicht verstehen? Sprechen wir über andere oder direkt mit den Betroffenen?

Mich haben die Gedanken von Spivak die letzten Wochen begleitet und in vielen Diskussionen angeregt oder Interpretationen geliefert. Ihre Analysen und ihre Darstellung der Strukturen der Gesellschaft, der Situationen der Menschen, sowie grundsätzlich die Auseinandersetzung darüber, wer spricht, Gehör findet und damit die Gesellschaft gestaltet, finde ich wichtig. Doch ihre Position, dass es Vermittlung braucht, ist schwierig. Den damit werden theoretisch ebenso Strukturen erhalten, beziehungsweise eine bestimmte Form zu kommunizieren favorisiert. Gleichzeitig ist die Einigung auf eine gemeinsame Kommunikationsform eine wichtige Basis des Zusammenlebens. Auch ihr Argument gegen die Souveränität des Subjekts finde ich nicht einfach. Zwar ist ihre Annahme, dass Menschen eben nicht immer ihren Interessen entsprechend handeln, plausibel. Aber was versteht man denn unter Selbstbestimmung? Sind manche Menschen souveräner als andere? Falls ja – wer entscheidet, was als souverän gilt? Falls nein – wieso sollen dann die einen vermitteln und die anderen nicht?

Was ich in der Schweiz als schwarzer geflüchteter Einwanderer erlebe

Das Leben in der Schweiz ist geprägt von Gefängnis, selbst wenn du kein Verbrechen begehst. Es gibt keine Liebe und keinen Respekt für Immigrant*innen, keine Freiheit und kein Frieden für Immigrant*innen, schon gar keine Menschenrechte für Immigrant*innen. Ich bin unschuldig, sie behandelten mich wie einen Kriminellen und ich fühle mich machtlos – Gerechtigkeit und Freiheit gibt es auch nicht für Immigrant*innen, sondern politische Trennung aufgrund der Hautfarbe. Rechte sind geknüpft an die politische und ökonomische Unterordnung – und eine Minderheit muss einfach die Regeln befolgen und hat überhaupt keinen Zugang zu Rechten. Die Rechtslage sagt viel aus über die Natur der Machtbeziehungen in einer Gesellschaft.

Meine Erfahrung als schwarzer Migrant in der Schweiz

Teil 1

Das Leben in der Schweiz könnte als Gefängnisleben de niert werden. Ich bin im Gefängnis, bloss weil ich keine Dokumente habe. Das Leben hier ist voller Anspannung, denn wenn du von der Polizei kontrolliert wirst, landest du im Gefängnis. Wir Immigrant*innen in der Schweiz haben keinen Frieden und es gibt für uns keine Menschenrechte. Wir haben auch keine Freiheit – vor allem wir schwarzen Menschen. Kannst du dir vorstellen, dass ein*e Polizist*in irgendwo, wo viele Leute sind, reinspaziert und nur die Schwarzen kontrolliert, während er*sie die anderen in Ruhe lässt, bloss aufgrund ihrer Hautfarbe? Ist das nicht eine rassistische Praxis? Hier gibt es keine Liebe und keinen Respekt für Immigrant*innen, vor allem schwarze Menschen. In kaum einem Land gibt es so rassistische Polizist*innen wie in der Schweiz, aber das bekommst du nicht mit, wenn du eine echte Schweizer*in bist. Aus vielen meiner Erfahrungen als schwarzer afrikanischer Migrant in der Schweiz, schliesse ich, dass einige Gesetze hier vor allem für Migrant*innen gemacht sind. Aber Menschen ausserhalb des Gefängnisses wissen das nicht, denn die Schweizer Polizei und Regierung geben in der Öffentlichkeit ein gutes Bild ab und alle denken ihre Regierung und Polizei seien korrekt. Dabei habe ich davon schon oft von Leuten gehört, bevor ich es hier im Gefängnis selbst erlebt habe. Nichtsdestoweniger ist meine Erfahrung als schwarzer Migrant in einem Schweizer Gefängnis, dass sie uns hier wie Sklav*innen behandeln. Der Sicherheitstyp weckt uns morgens um 07:15, indem er die Türe öffnet. Dabei stellt er sicher, dass die Türen weit geöffnet sind, um uns zu stören und aufzuwecken. Wenn du fragst, wieso er das tut, wirst du folgende Antwort kriegen: „Das ist ein Gefängnis und kein Hotel!“ Wenn du Besuch hast, wie es dir von Gesetzes wegen zusteht, musst du dich zuerst vor den Wärtern nackt ausziehen. Auch wenn du schon oft Besuche hattest, verlangen sie es. Wenn sie dich durchsuchen und du sie fragst wieso, sagen sie dir, dass du dich einfach nackt ausziehen musst und dich als Person sowieso nicht weigern darfst. Wenn du dich weigerst, bringen sie dich an einen Ort, den sie Bunker nennen – das ist ein sehr schlimmer Ort, wo du alleine in einen Raum gesperrt bist und von ihnen gefoltert wirst. Es kann sein, dass du eine ganze Woche dort sein musst, ohne jemals hinauszukommen oder zu sehen. Wir sind denen hier im Gefängnis völlig egal. Ehrlich gesagt, haben die meisten Menschen, die ich im Gefängnis traf, nichts verbrochen. Einige von ihnen waren zwei Jahre im Gefängnis, andere nur sechs Monate und dann gab es auch solche, die waren noch länger drin. Und wenn du sie fragst, findest du heraus, dass sie bloss sitzen, weil sie keine Papiere oder Dokumente haben. Etwas anderes was ich hier im Gefängnis erfahren habe, ist, dass wenn du hierher gebracht wirst, die Polizei all dein Geld wegnimmt, so dass du gezwungen bist im Gefängnis zu arbeiten. Sie geben dir hier eine Arbeit, die zwei Stunden dauern sollte, aber wir müssen immer zweieinhalb Stunden arbeiten. Es ist eine sehr anstrengende Arbeit, aber sie bezahlen nur sechs Franken am Tag. Zum Essen. Wir essen hier im Gefängnis nur zweimal am Tag. Sie geben uns um elf Uhr Essen und das Abendessen gibt es um fünf Uhr. Es gibt hier im Gefängnis einen kleinen Kiosk, wo die Sachen für den doppelten Preis wie draussen verkauft werden und der Kiosk hat nur freitags geöffnet, also einmal pro Woche für zwanzig Minuten. Wenn du also diese zwanzig Minuten Einkaufszeit verpasst, musst du bis zum nächsten Freitag warten. Weiter oben habe ich erzählt, dass dir das Geld, das du auf dir trägst, abgenommen wird, also musst du im Gefängnis arbeiten. Wenn du dich weigerst, werden sie dich hassen und du wirst zu vielen Dingen hier keinen Zugang bekommen. Sie gehen sicher, dass du bestraft wirst. Damit sie dich ins Spital bringen, musst du richtig krank sein. Wenn du nur ein bisschen krank bist, kannst du es vergessen, denn sie behandeln dich hier wie einen SKLAVEN. Und wenn du zum Spital gebracht wirst, werden deine Hände und deine Füsse selbst während der Behandlung durch die Polizei gefesselt sein, ausser der*die Doktor*in weist die Polizei an, die Fesseln abzunehmen. Ansonsten bleiben die Fesseln, vom Losgehen, bis du wieder zurück im Gefängnis bist. Wenn du zum Gericht gehst, wirst du beim zurückkommen am ganzen Körper durchsucht. Auch wenn du sonst irgendwo-hin gehst. Wenn du sie fragst wieso, sagen sie dir, weil du in der Schweiz bist. Etwas anderes. Hier im Gefängnis hast du das Recht eine Anwältin oder einen Anwalt zu treffen – entweder sie teilen dir eine*n zu oder du hast die Erlaubnis selbst eine*n zu suchen. Aber sie verweigern es dir. Und wenn du fragst weshalb, erhältst du als Antwort: „Nein, du bist in der Schweiz.“ Alle diese Behandlungen hängen damit zusammen, dass wir keine Papier oder Dokumente haben – was sie ILLEGAL nennen. Wenn du von der Polizei oder Grenzwache kontrolliert wirst und nicht die richtigen Papiere hast, bringen sie dich auf die Wache um die Fingerabdrücke abzunehmen und zu sehen, ob du sie schon sonst wo in Europa abgegeben hast. Wenn du das hast, wirst du dorthin geschickt wo du zuerst registriert wurdest. Wenn du sie nirgends in Europa hast, wird dich die Migrationspolizei zwingen in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen und nach drei Monaten wirst du mit einem Negativentscheid abgelehnt und sie stecken dich ins Gefängnis. Du wirst vor Gericht gebracht, wo du drei Monate für illegalen Aufenthalt bekommst. Dann, nach drei Monaten, geben sie dir weitere drei Monate bis vielleicht 18 Monate und dann wirst du in dein Ursprungsland ausgeschafft. Wenn du zum Beispiel in der Schweiz einen Negativentscheid hast und in ein anderes Land gehst, ruft das Land die Schweiz an und bittet die Behörden dich zurück zu schicken. Zurück in der Schweiz bringt dich die Migrationspolizei ins Gefängnis und nach zwei Tagen zum Gericht – stell dir vor für „illegal sein.“ Sie stellen dir keine*n Anwält*in zur Seite und sie sind alle gegen dich und fragen, wieso bist du aus der Schweiz ausgereist? Wenn du sagst, weil ich einen Negativentscheid erhalten habe, sagen sie dir, dass du kein Recht hast irgendwohin zu gehen ausser in dein Ursprungsland und du darfst vor Gericht nicht einmal deine Sicht darlegen. Ausserhalb des Gefängnisses Häu g geht die Polizei hier in der Schweiz in afrikanische Shops um schwarze Menschen zu kontrollieren, die etwas zu Essen oder zu Trinken kaufen. Dies schreckt manchmal die Kund*innen des Shops davon ab dort weiterhin einzukaufen. Deshalb sagte ich, dass wir Schwarze oder schwarze Immigrant*innen in der Schweiz mehr als in anderen europäischen Ländern voller Angst durch die Strassen gehen. Wir sollen verstehen, dass wir als schwarze Immigrant*innen hier keine Rechte haben.

Teil 2

Das Leben in der Schweiz ist geprägt von Gefängnis, wenn du keine Dokumente hast, denn wenn du von der Polizei kontrolliert wirst, stecken sie dich ins Gefängnis. Und wenn du ein Dokument von einem anderen europäischen Land hast, versuchen sie dir ein VERBOTEN zu geben, was heisst, du darfst für so und so viele Jahre nicht mehr in die Schweiz kommen. Es ist unterschiedlich, wie viele Jahre sie einer Person geben (Ich kenne einen Mann, der eine Einreisesperre bis 2099 bekam). Es gab einen Fall, da die Polizei in einen afrikanischen Shop ging. Nach der Kontrolle, gingen sie mit einem schwarzen Mann weg, und der schwarze Typ fragte sie „Wieso soll ich mit euch gehen, wenn ich doch ein Dokument habe?“ Sie sagten ihm, dass er ein VERBOTEN in Frankreich habe und er sagte „Ja, aber hier ist nicht Frankreich sondern die Schweiz.“ Stell dir vor, er schlief in einer Polizeizelle für drei Tage, bis sie ihn zum Gericht brachten. Dort fragte ihn der Richter, was der Mann gemacht habe. Die Polizistinnen sagten, er habe ein VERBOTEN. Der Richter fragte sie darauf, wo, wann und in welchem Land er es habe. Denn der Angeklagte sagte, er habe nur ein VERBOTEN für Frankreich für zehn Jahre und er sei nie mehr in Frankreich gewesen. Der Richter sagte den Polizist*innen, sie hätten ein Woche Zeit, den genauen Ort herauszufinden, wo er das VERBOTEN erhielt. Aber sie konnten es nicht heraus finden und mussten ihn nach einer Woche wieder entlassen. Sie sagten sie hätten Frankreich angerufen und das VERBOTEN gelte nur für Frankreich. In ihrem System konnten sie nichts gegen ihn finden. Das ist was wir Schwarzen oder Immigrant*innen hier in der Schweiz erleben. Wenn du im Gefängnis arbeitest und das Migrationsamt dich in dein Ursprungsland zurückschicken will, geben sie dir das Geld, für das du gearbeitet hast, nicht. Das ist sehr SCHLECHT. Sie behandeln uns, als ob wir TIERE wären. Wenn deine Frau oder deine Freundin dich besucht und ihr im Besucherraum eure Hände haltet, stellt dir vor, kommt die Wache und befiehlt euch, euch nicht an den Händen zu halten, und sagt, dass deine Frau oder Freundin Probleme mit ihm bekommen würde, wenn ihr es nicht unterlässt. Stell dir die Beleidigungen vor, die wir von ihnen aushalten müssen. Du kannst deine Frau oder Freundin nicht umarmen, weil du im Gefängnis bist, weil du ILLEGAL bist. Das nenne ich VERLETZUNG DER MENSCHENRECHTE! Im Übrigen sind die Dinge die ich hier beschrieben habe wenig verglichen mit dem, was wir im Schweizer Gefängnis tagtäglich sehen.

Von Privilegien, Schuldgefühlen und Solidarität

Die Auseinandersetzung mit dem Migrationsapparat in der Schweiz veranschaulicht deutlicher wie andere Herrschaftsformen die Brutalität, mit der in unserer Gesellschaft mit Menschen umgegangen wird. Von einem bürokratischen Apparat legitimiert, im demokratischen Gewand umhüllt, werden Menschen in Lagern konzentriert, in verschiedene Verwertungskategorien eingeteilt und in ihrem selbstständigen Handeln stark eingeschränkt. Das Migrationsregime bietet zig Gründe, es zu verachten und abzulehnen; in irgendeiner Form dagegen aktiv zu werden und sich mit Migrant*innen zu solidarisieren. Gleichzeitig konfrontiert Mensch die Auseinandersetzung mit dem Migrationsregime mit eigenen Privilegien und Widersprüchen und wirft die Frage der Solidarität auf.

Sich mit dem Elend anderer konfrontiert zu sehen, kann zu Ohnmacht und zu Schuldgefühlen führen. Diese kommen von der Erkenntnis, dass die Privilegien, die Mensch als Schweizer*in «geniesst», völlig willkürlich sind und auf der Unterdrückung und dem Ausschluss tausender anderer Menschen beruhen. Dass der Überfluss an Materiellem, der Lebensstil, den wir pflegen, nur einem ausgewählten Teil der Gesellschaft möglich ist. Schuldgefühle sind eine Antwort auf unser eigenes Handeln (oder eben nicht-Handeln), also auf die Art, wie wir unser eigenes Leben führen. Eine mögliche Reaktion darauf ist ein karitativer Reflex, der Versuch etwas von seinen Privilegien abzugeben und anderen Menschen irgendwie zu helfen. Sei es durch das Beibringen der Sprache, der Bereitstellung materieller Güter, das Schreiben von juristischen Beschwerden. Ich will keinesfalls diese Arten von Unterstützung als per se schlecht oder unnütz darstellen. Allerdings sollte vor dem Handeln auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position, den eigenen Privilegien stattfinden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Position impliziert eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der rechtlichen und politischen Institutionen. Erstere werden durch Letztere in Komplizenschaft mit den gesellschaftlichen Mitglieder*innen produziert und beeinflussen das eigene Leben stark. Kommt Mensch zum Schluss, dass er diese Gesellschaft ablehnt, heisst dies automatisch auch seine eigene Position, seine eigene Lebensführung kritisch zu hinterfragen und seine vom Staat erhaltene Position abzulehnen. Mit der Ablehnung dieser Gesellschaft werden wir alle zu Unterdrückten, weil die Verhältnisse, in denen wir leben, nicht von uns selbst bestimmt werden. Gegenüber anderen privilegiert sein, bedeutet in dem Sinne, vergleichsweise weniger Ausbeutung und Unterdrückung in dieser Gesellschaft zu erleiden. Mensch mag nun argumentieren, dass wir doch in der Schweiz, einem verhältnismässig fortschrittlichen Land leben. Wenn damit die technischen und ökonomischen Neuerungen gemeint sind, die zur Steigerung des Konsums der Gesellschaftsmitglieder beitragen, mag dies stimmen. Die Schweiz ist gewiss ein Land, in welchem du, sofern du über die nötige gesellschaftliche Stellung verfügst, ein Leben voller materieller Sicherheit und Konsum führen kannst. Wenn Fortschritt aber als Massstab verstanden wird, welche die Möglichkeit zur freien Gemeinschaft mit anderen, zur Selbstverwirklichung und zur Eigeninitiative der Menschen misst, so leben wir doch in einem gar unfreien und rückständigen Staat, einem Land voller (Selbst)disziplinierung und Beschränkungen, die unseren gesamten Alltag durchdringen. Es bleibt die Frage aufzuwerfen inwiefern jede*r ein angepasstes Leben führt und sich in diese Gesellschaft integrieren lässt. Inwiefern wir die Verhältnisse kritisieren, in denen wir leben, aber in unserem Alltag den für uns vorgesehenen Platz nicht verlassen und an unseren Privilegien hängen. Natürlich kann Mensch die Privilegien, die er hat, nicht einfach ablegen, aber er kann sie ablehnen, indem er in Konflikt mit Strukturen und Mechanismen tritt, die die Menschen kategorisieren und fremdbestimmen und somit den persönlichen Konflikt zum Teil des Kampfes gegen das Migrationsregime machen. Die Verweigerung seiner eigenen gesellschaftlichen Position ist kein rein individueller Akt und muss im Zusammenschluss mit anderen geführt werden. Jedoch steht zuallererst die individuelle Entscheidung, die Institutionen, welche uns in Machtpositionen zu anderen setzen, zu negieren und zu bekämpfen. Um zum Widerstand gegen das Migrationsregime zurückzukommen, stellt sich nun die Frage, was Solidarität in diesem Bereich heissen kann. Solidarität sollte keinesfalls als eine Beziehung des Dienstes, basierend auf der Konzeption der Schuld sein. Nicht Individuen sind es, die in der Schuld von irgendwem stehen, sondern die soziale Ordnung ist es, die Menschen etwas aufzwingt. Schuldig sind wir nur (und vor allem gegenüber uns selbst), wenn wir die soziale Ordnung, so wie sie ist, akzeptieren und unseren vordefinierten Platz darin einnehmen. Wenn Solidarität bedeutet zusammen mit seinen Mitmenschen als Gleiche zu verkehren, um unsere gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, muss Solidarität auch bedeuteten die Verhältnisse, die ein auf Freiwilligkeit und Bedürfnissen basierendes Zusammenleben verhindern, zu negieren. Solange es Staaten, Gesetze, Normen und eine Ökonomie gibt, die uns definieren und unser Handeln bestimmen, gestaltet sich ein solidarischer Zusammenschluss von Menschen als sehr schwierig. Solange Machtverhältnisse unser Verhalten und unser Handeln beeinflussen, solange Kategorisierungen uns trennen, können wir unsere Existenz nicht selbst bestimmen. Eine Grundvoraussetzung für einen solidarischen Umgang mit Menschen, welche weniger privilegiert als Mensch selber sind, ist der persönliche Konflikt mit dieser Gesellschaft, welcher sich auch im alltäglichen Leben manifestieren muss und die Suche nach Wegen, wie wir der Unterdrückung etwas entgegenhalten können. Solidarisch sein heisst natürlich auch, sich der unterschiedlichen Ausgangslagen von Menschen bewusst zu sein und ihnen Rechnung zu tragen. Zu versuchen die Isolierung ausgeschlossener Menschen zu durchbrechen und nach Wegen gemeinsamen Handelns zu suchen; Eine Praxis zu finden, welche nicht auf der Integration von Ausgeschlossenen in diese Gesellschaft beruht, die wir ja eigentlich ablehnen, sondern eine, welche diese Gesellschaft negiert und angreift und mit anderen Formen des Zusammenlebens experimentiert.

Dieser Artikel soll als Diskussionsanstoss zur kontroversen Frage dienen, was Solidarität mit migrantischen Kämpfen bedeuten kann. Durch verschiedene Tätigkeiten kam der Autor in Kontakt mit dem repressiven Migrationsapparat und solidarischen Gruppen. In Letzteren fehlt ihm oftmals der Bezug zum eigenen Leben und zu eigenen Privilegien. Der Autor dieses Textes ist ein Schweizer Bürger, der den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht hat.

Einschliessen und ausschliessen

zu den Mechanismen einer bewertenden Kategorisierung von Menschen

Mohamed Wa Baile ist Pendler: Als Dokumentalist ist er täglich zwischen Bern und der ETH in Zürich unterwegs. Er ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat zwei Kinder. Er engagiert sich für die Stadt Bern in der Fachkommission für Integration. Er ist einer jener idealistisch gesinnten Schweizer, um die man froh ist.

… von Fredi Lerch, in Journal B

Mohamed Wa Baile verkauft keine Drogen. Der gebürtige Kenianer hat an der Universität Freiburg Englische Literatur und an der Universität Bern Islamwissenschaften studiert. Aktuell arbeitet er als Dokumentalist an der ETH Zürich. Doch dies spielt kaum eine Rolle. Wer ihm auf der Strasse begegnet, sieht keinen Akademiker, sondern einen Dunkelhäutigen und damit einen potenziell Kriminellen.

… von Fabian Christl in Der Bund

Ich bin Schweizer, Vater zweier Kinder, wohne in Bern und arbeite als Bibliothekar. Ich war Mitglied der Fachkommission Integration der Stadt Bern und gehöre heute einer Begleitgruppe zur Umsetzung des städtischen Massnahmeplanes «Integration konkret» an.

… von Mohamed Wa Baile im Bulletin solidarité sans frontières

Diese drei Zitate stehen alle jeweils am Anfang eines Textes, der „den Fall Mohamed Wa Baile“1 darstellt – wie er morgens mitten im Pendlerstrom am Bahnhof Zürich von der Polizei kontrolliert wird, sich weigert, seine Personalien anzugeben bzw. seine Papiere vorzuweisen und dafür verzeigt wird. Solche willkürlichen Polizeikontrollen, ohne konkreten Anlass oder begründeten Verdacht auf eine Straftat, hatte er in den letzten Jahren schon Dutzende erlebt. Ganz offensichtlich wurde er am HB als einziger mit dunkler Hautfarbe von den Polizist*innen herausge scht. Die Praxis solcher Personenkontrollen, die allein aufgrund äusserer Merkmale wie Hautfarbe, fremdländischen Aussehens oder religiöser Kleidung erfolgen, nennt man „Racial Profiling“. Gegen die auferlegte Busse hat Mohamed Wa Baile Einsprache erhoben und so kam es im November zu einer Verhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich – eine Verhandlung, die der Angeklagte zusammen mit einer Solidaritätsgruppe nutzte,2 um das Thema Racial Profiling aufzubringen und die Strukturen hinter den willkürlichen und rassistischen Polizeikontrollen zu benennen.

Doch darum soll es hier nicht gehen. Was mich irritiert ist, was in den ersten paar Zeilen aller drei Berichte steht. Dass nämlich die kontrollierte Person dunkler Hautfarbe mit positiven Attributen versehen wird und also klar ist: Es handelt sich hier um einen legalisierten und als positiv zu bewertenden schwarzen Mann. Wozu ist das nötig? Wäre eine rassistische Praxis legitim, wenn es sich um einen Papierlosen, einen Asylbewerber, einen Sozialhilfeempfänger oder um einen Drogendealer handelte? Stecken solche Vorurteile hinter diesen Formulierungen und tragen die Autoren diese mit, indem sie deutlich zu verstehen geben, dass es auch „Andere“ gibt und sie diese Anderen nicht miteinschliessen wollen in ihre Kampagne? Oder ist es einfach nur Strategie, beim Publikum Sympathien zu wecken, damit überhaupt jemand von der angesprochenen Thematik Kenntnis nimmt und sich nicht gleich mit der eigenen Fremdenfeindlichkeit konfrontiert sieht?

Anlass, mich mit Formulierungen dieser Art auseinanderzusetzen, war ein Mitgliederbrief einer Organisation, die sich solida- risch für Migrant*innen einsetzt. Anlässlich der Räumung der Matthäuskirche3 startete die Organisation eine Kampagne zur Verteidigung des Kirchenasyls. Doch darüber, was da eigentlich los war in der Kirche sowie über die Besetzer*innen und Ihre Anliegen, war in den Briefen kaum etwas zu erfahren. Dafür wurde ausführlich über eine tschetschenische Familie aus Kilchberg berichtet, die ebenfalls in einer Kirche Zuflucht gesucht hatte und letztlich auf Druck der Behörden ausgereist ist. Im Brief war zu lesen, dass es sich bei der sechsköpfigen Familie um einen Härtefall handelt, dass der Vater gefoltert wurde, ihre Flucht mehrere Wochen dauerte, die Familie gut integriert war und sich gar eine breit abgestützte Bürgerinitiative für den Verbleib der Familie in der Schweiz einsetzte.

Was hatte die Hervorhebung von Härtefall, Folter und Integrationsgrad zu bedeuten? Sollte damit verdeutlicht werden, dass eine Abschiebung in diesem Fall ein Skandal ist und die tschetschenische Familie sich für den kirchlichen Schutz quali ziert? Und weshalb konzentrierte sich im Fall der Matthäuskirche die Entrüstung auf das Eindringen der Polizei in eine Kirche und deren hartes Vorgehen gegen Demonstrant*innen? Hatte die Autorenschaft bewusst darauf verzichtet, ausführlicher über die Besetzer*innen der Matthäuskirche zu berichten und weshalb? Weil sie die Kriterien für Barmherzigkeit nicht in dem Masse erfüllen oder weil sie die bürgerliche Welt nicht im gleichen Masse bestätigen? Bis auf eine Ausnahme waren alle jung, gesund, stark, selbstständig und mutig – alles andere also als hilfsbedürftig oder besonders schutzwürdig. Das einzige was ihnen fehlte, waren die richtigen Papiere. Für mich reproduzierte dieser Brief präzise die Berichterstattung in den Medien, wo auch nicht viel mehr als die Anzahl der Verhafteten zu erfahren war.

Später habe ich dann mehr erfahren über den Prozess gegen Mohamed und die Kampagne der Allianz gegen Racial Profiling. Auch da war wieder dieses Unbehagen, dass etwas für mich nicht stimmig ist und mir wurde immer klarer weshalb. So wie Mohamed argumentiert und wie die Kampagne der Allianz bis- her geführt wird, fehlt mir die Verbindung zur aktuellen Situati- on von Flüchtenden, die in Europa ihre Zukunft suchen. Es fehlt mir der Bezug zu all jenen, die gar keinen Schweizer Pass oder ein anderes Dokument haben, das sie bei einer Personenkontrolle vorzeigen könnten und deshalb mit Verhaftung, Gefängnis und Ausschaffung zu rechnen haben. Die Kampagne versucht nicht konsequent genug, die Grenze zwischen den Eingeschlossenen und den Ausgeschlossenen aufzulösen, sondern fordert nur eine Verschiebung dieser Grenze für ein paar ausgewählte Individuen. Was letztlich maximal dazu führt, dass es auch ein paar Schweizer*innen of Color ganz auf die Seite bürgerlicher Privilegien schaffen. Doch in einem politischen Kampf für die Rechte jener, denen gesellschaftliche Teilhabe und die allermeisten Freiheiten verschlossen bleiben, können die kapitalistischen Klassenverhältnisse nicht aussen vorgelassen oder gar unhinterfragt reproduziert werden. Denn ohne diese Verhältnisse zu benennen, können die Strukturen im Hintergrund nicht erkannt werden. Und ohne diesen Hintergrund von Racial Pro ling zu beleuchten, bleibt meines Erachtens eine Verbesserung für alle Betroffenen eine naive Hoffnung – eine Hoffnung und ein Bestreben, das davon ablenkt, dass es um mehr geht, als um rassistische Selektion bei polizeilichen Personenkontrollen.

An einem Basler Treffen zu Racial Profiling habe ich auch R, einen Mann of Color aus Haiti, kennengelernt und erlebt, wie er seine Situation und seine Sichtweise sehr emotional und kämpferisch vorgetragen hat und den Schluss zog: Der Staat, die Polizist*innen, die Gesellschaft führen einen Krieg gegen Schwarze, terrorisieren sie, peinigen sie und kränken sie systematisch – hier in der Schweiz, in Europa, in USA! Dem kann ich gut folgen und möchte noch hinzufügen, dass auch an der Aussengrenze von Europa, in Idomeni, in Como, auf dem Mittelmeer, in Ceuta und Melilla sowie an der US-mexikanischen Grenze gegen Migrierende Krieg geführt wird. Und auch gegen die maghrebinischen Jugendlichen in den Vorstädten von Paris und gegen die Bewohner*innen der Slums vieler Grossstädte des Südens wird mit Gewalt vorgegangen – insbesondere gegen jene, die nicht mehr alles ertragen wollen, sich zusammenschliessen und sich wehren. Solange ich keinen besseren Begriff finden kann, nenne ich das „Klassenkampf“. Der in der Schweiz lebende Rasul O. drückt dies in einem WoZ-Interview so aus: „Die Polizei zu rufen wäre das allerletzte was ich je täte, wenn ich ein Problem hätte. Die Polizei ist da, um die Reichen vor den Armen zu beschützen. Und je schwärzer desto ärmer – das ist ein globales Phänomen. Das Problem geht tiefer als Racial Profiling.“4 Jawohl, es geht viel tiefer und das Problem ist ein strukturelles. Die Kritik an Racial Profiling dagegen, richtet sich erst einmal nur gegen die Selektion aufgrund der äusseren Erscheinung einer Person. Damit greift sie zu kurz. Denn weder werden Polizeikontrollen ganz grundsätzlich in Frage gestellt, noch wird die staatliche Legitimation kritisiert, Menschen aufgrund fehlender Aufenthaltspapiere einzusperren und auszuschaffen. Mit einer solchen Kampagne lassen sich die gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen nicht aufdecken.

Auf die eingangs gestellte Frage zurückkommend stelle ich fest, dass es an grundsätzlicher Kritik der strukturellen Verhältnisse mangelt – an jenen Verhältnissen, die den Kategorisierungen und der repressiven Praxis gegenüber Migrant*innen zugrunde liegen. Und ebenso fehlt es an einer Kritik der Strukturen, die Ausbeutung, Unterdrückung, Zerstörung von Lebensräumen und einseitige Bereicherung erst möglich machen und damit Migration befördern. Ich nde es erschreckend, wie de- fensiv sich SP und Grüne, kirchliche Kreise, WoZ, Hilfswerke, Gewerkschaften – um nur einige zu nennen – verhalten, wenn es um Migration geht. Ich bezweifle, dass dies allein Taktik ist und nur versucht wird präventiv zu vermeiden, sich gegenüber einer Mehrheitsmeinung angreifbar zu machen. Eine solche Diskrepanz zwischen humanistischem Selbstbild und der Reproduktion repressiver Strukturen muss tiefere Quellen haben. Und diese Diskrepanz wird sich erhalten, solange nicht bewusst miteinbezogen wird, dass Migration ein Kampf um Beteiligung ist und von privilegierter Seite eben diese Privilegien mit allen Mitteln verteidigt werden. Solange nicht Stellung bezogen wird und dies miteinschliesst, dass die eigenen Privilegien schwinden könnten, wird sich auch an den vorgestellten Formulierungen nichts ändern, weil die Perspektive die falsche bleibt.

Zu solchen Formulierungen trägt auch wesentlich bei, dass unsere politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen routiniert und unre ektiert als positiv bewertet werden. Moderate Kritik gehört zwar dazu, ebenso dass kosmetische Verbesserungsvorschläge geäussert werden. Daraus resultiert mit der Zeit ein Mangel an Bewusstheit über die eingenommene Perspektive – eine Perspektive, die eben immer impliziert, dass unser System positiv zu bewerten und entsprechend konserviert werden muss, ja sogar auch für andere andernorts auf der Welt erstrebenswert sein soll. Gleichzeitig wird nicht explizit darauf hingewiesen, dass unser Reichtum und unsere befriedete Welt nur auf Kosten einer „Dritten Welt“ zu haben sind und nicht alle teilhaben können. Daraus muss letztlich eine Selektion resultieren. Und dieser Zwang zur Selektion bzw. zur Verteidigung des eigenen Territoriums durchdringt dann sämtliche Lösungsvorschläge zur Bewältigung der Migrationsproblematik. Das gilt insbesondere auch für den Gebrauch der Sprache, was ich mit den ausgewählten Formulierungen zu zeigen versuchte. Lösungen, die daraus resultieren, sind deshalb immer Lösungen, die für uns gut sind, in unser System passen, in unseren Denkschemata Sinn ergeben. Mit der Realität und dem Erleben einer Mehrheit von Migrierenden haben solche Ansätze oft nicht viel zu tun. Auch wird suggeriert, dass Menschen gar nicht systematisch ausgeschlossen, abgewertet und als illegitim kategorisiert würden. Im Vordergrund steht der Wunsch zu helfen, human zu sein, eine gerechtere Welt zu schaffen und nicht der Wille, gewalttätige Strukturen aufzudecken und nicht die Bereitschaft, jegliche Kooperation mit einem ausbeutenden, unterdrückenden und repressiven System zu verweigern. Oder in anderen Worten – es gibt auch in jenen Kreisen, die sich als fortschrittlich, weltoffen und sozial verantwortlich sehen, gar keine Bereitschaft, geschweige denn positive Visionen für die Überwindung kapitalistischer Klassenverhältnisse. Denn dazu müsste in erster Linie anerkannt werden, dass es keine Legitimation dafür gibt, die Welt in Ausgeschlossene und Teilhabende aufzuteilen und schon gar nicht, diese Aufteilung bzw. die entsprechenden Territorien mit Gewalt durchzusetzen und aufrecht zu erhalten, während Waren, Kapital, benötigte Ressourcen und erwünschte Arbeitskräfte nach Bedarf der Mächtigen frei bewegt werden können. Das ist jedoch genau die gegen Subalterne gerichtete Gewalttätigkeit des aktuellen Migrationsregimes. Ein Regime, das ja gerade Ausdruck der Machtverhältnisse ist und dem Schutz von Privilegien eines reichen und befriedeten Europa dient. Woraus ich schliesse, dass wir an den Veränderungen arbeiten müssen, die eine bedingungslose Legalisierung von Migration mitbringen werden. Was das für eine Kampagne zu Racial Pro ling bedeuten könnte, darüber sollten wir uns noch unterhalten.

Im Verlauf des Schreibens habe ich konsterniert festgestellt, wie klein jene Gruppe politischer Aktivist*innen ist, die das Migrationsregime und andere rassistische Strukturen ganz grundsätzlich kritisieren. Und ich habe erst in den Diskussionen mit dem Redaktionsteam die eigene Versuchung bemerkt, mich über die Ignoranz jener „linken Kreise“ zu beklagen, denen ich eigentlich eine eindeutige Position der Solidarität zugetraut hatte.

 

Wer ist die Gruppe STOP Racial Profiling?

Die Gruppe „Stop Racial Profiling Basel“ ist ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, die in unterschiedlicher Weise von systematischer Selektion und rassistischen Personenkon- trollen betroffen sind. Wir haben uns zusammengetan, um uns gemeinsam gegen willkürliche (Polizei-)Kontrollen zu wehren. Die Gruppe besteht seit 2016. Sie ist in Kontakt mit der Allianz gegen Racial Profiling (www.stop-racial-profiling.ch) und Teil einer wachsenden landesweit vernetzten Bewegung. Unsere Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema Racial Profiling aufzugreifen und jegliche rassistische Behördenpraxis zu bekämpfen. Dieses Ziel verfolgt die Gruppe in verschiedenen Arbeitsgruppen zu Erfahrungsaustausch, Öffentlichkeit, Doku- mentation, Reflexion, Awareness und Aktion mit einer grossen Vielfalt an Formen und Ideen.

StopRaPro Basel trifft sich jeden zweiten Montag im Monat im Gewerkschaftshaus beim Claraplatz. Wir freuen uns, wenn die Bewegung weiterwächst. Gerne kannst du uns auch per Mail kontaktieren: stoprapro@immerda.ch